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Wie hoch war der Preis für Panamas Freiheit?

■ Möglicherweise kostete die US-Invasion zehnmal mehr Todesopfer als offiziell zugegeben / Von Leo Gabriel

Über drei Monate nach der Invasion US-amerikanischer Truppen in Panama gehen die Schätzungen über die Zahl der Getöteten immer noch weit auseinander. Nach Angaben des Weißen Hauses in Washington wurden 539 Menschen getötet - 314 Mitglieder der panamaischen Nationalgarde, 202 panamaische Zivilisten und 23 US-Soldaten. Der frühere US-Justizminister Ramsey Clark sprach im Zusammenhang mit gerichtlichen Ermittlungen gegen den ehemaligen Armeechef Panamas, Manuel Noriega, nun in Miami von möglicherweise 4.000 bis 7.000 Toten. Bei einer Reise durch Panama hat er Hinweise auf Massengräber mit Opfern der US-Invasion erhalten. Auch der Bischof von Panama gehe von 4.000 Opfern aus. Die in Washington ansässige Menschenrechtsorganisation „Americas Watch“ hat mindestens hundert Ziviltote ausfindig gemacht, die von der US -Regierung nicht mitgezählt wurden. Dem Weißen Haus ist offenbar wenig daran gelegen, den wahren Sachverhalt aufzuklären.

Isabel Coro hält Manuel Noriega noch heute für den „größten Betrüger, den die Nation je gekannt hat“. 1988 schon siedelte sie in die USA über, um dem wachsenden politischen Druck des zum Jahresende von der US-Army gestürzten Armeechefs von Panama zu entgehen. Daß sie trotzdem zu den entschiedensten Gegnern der US-Intervention zählt, hat etwas mit ihrer eigenartigen Rolle zu tun, die ihr eher durch Zufall als durch ihr politisches Engagement zugekommen ist: Die attraktive Enddreißigerin, die sich selbst als „Anwältin unserer geliebten Toten“ bezeichnet, hat vor einigen Wochen die „Asociacion de Familiares de Defensa y Civiles“ gegründet, was auf deutsch soviel wie „Verein der Familienangehörigen der Militärs und Zivilisten“ heißt.

Zu ihrem eigenartigen Beruf kam sie, weil ein von ihr sehr geliebter Onkel, der Oberst in der Armee Noriegas war, beim ersten Angriff der US-Armee getötet, in einen grünen Plastiksack gesteckt und dann - wie fast alle Opfer der Invasion - zusammen mit Dutzenden anderen auf irgendeinem Friedhof in einem Massengrab verscharrt wurde. „Während die Amerikaner ihre Gefallenen wie Helden mit Pauken und Trompeten bestatteten, mußte unsere Mutter erfahren, daß man ihre Söhne und Töchter einfach in ein Loch geschmissen hat“, klagt Isabel Coro, „so begraben wir hier in Panama nicht einmal unsere Hunde.“

Im pietätlosen Verhalten der Invasoren spiegelte sich nicht nur der Rassismus wider, der bis heute die US-amerikanischen GIs kennzeichnet, wo immer sie hier auftreten; ihren Befehlshabern war daran gelegen, die Toten so rasch wie möglich „loszuwerden“. Nicht einmal die ungefähre Anzahl der Toten sollte bekannt werden. Aus diesem Grund hatte man damals die Leichen oft in Kühlwagen für Speiseeis transportiert und allen in- und ausländischen Journalisten verboten, die Friedhöfe und Krankenhäuser zu betreten. „Nichts wäre für die Regierung einfacher, als an Hand der Lohnlisten festzustellen, wie viele Leute fehlen“, meint Isabel Coro, „aber sie weiß nur zu gut, daß sie sich an den Verbrechen mitschuldig gemacht hat, als sie die Invasion akzeptierte. Es ist blanker Zynismus, wenn uns der neue Gouverneur der Provinzstadt Penonome sagt, daß das eben der Preis ist, den wir für die Befreiung zahlen müssen.“

Obwohl noch immer niemand die genaue Anzahl der Toten kennt - bisher konnten nur 637 Leichen einwandfrei namentlich identifiziert werden -, gibt es bereits ziemlich genaue inoffizielle Schätzungen. Die vorsichtigste unter ihnen ist die des Roten Kreuzes, die lediglich die 1.500 Verschwundenen rechnet, die - wie es das panamaische Recht vorsieht - bereits nach drei Monaten für tot erklärt worden sind. Isabel Coro, die selbst schon mehrere Massengräber entdeckte, schätzt die Gesamtzahl der Toten auf 3- bis 4.000.

„Das unsichtbare

Flugzeug“

Daß die Panamaer das Trauma jener ersten zwölf bangen Stunden überwunden, aber nicht vergessen haben, in denen der Seismograph der Universität 417 Bombeneinschläge registrierte, erfuhren wir in der Escuela Venezuela: In diesem heruntergekommenen Schulgebäude konnte während der Schulferien ein kleiner Teil der 18.000 Obdachlosen aus El Chorrillo untergebracht werden. Dieses Armenviertel war in der Nacht vom 19. auf den 20. Dezember in Flammen aufgegangen.

„Es ist eine Lüge, daß sie uns vorgewarnt haben“, legt Cirilo Castillo, eines der Mitglieder der „Nationalen Kommission der Kriegsflüchtlinge“, los, „erst um sieben Uhr früh befahlen uns die amerikanischen Soldaten, aus unseren Häusern zu kriechen. Als ich herauskam, sah ich einen Konvoi, bestehend aus zwei Panzerfahrzeugen und einer Ambulanz in der Mitte. Sie checkten aber nur, ob sich unter den Leichen auch Nordamerikaner befanden. Dann rollten sie mit ihren Fahrzeugen erbarmungslos über die Toten, unter denen auch viele Kinder waren.“

Am Neujahrstag, als ich sie zum erstenmal interviewte, hatten viele Bewohner El Chorrillos behauptet, ihre Häuser seien von den Angehörigen der noriegatreuen „Batallones de la Dignidad“ verbrannt und geplündert worden. „Wir hatten solche Angst, daß die Hubschrauber und das Flugzeug, das keinen Lärm macht, wiederkommen könnten; außerdem haben die Gringos einige bezahlt, damit sie die Falschinformationen unter die Leute bringen“, erklärt Cirilo die Lügen von damals und wird dabei von einigen Frauen wortreich unterstützt.

Von dem „Flugzeug, das keinen Lärm macht“, war auch in US -Militärberichten die Rede gewesen. Es handelt sich um den sogenannten „Stealth-Bomber“, der von Radarschirmen nicht erfaßt werden kann. Nur gab es in Panama während der US -Invasion keinen einzigen Radarschirm, der nicht ohnehin von der US-Luftwaffe kontrolliert wurde. „Anstelle von Explosivstoffen war dieses Flugzeug mit Laserkanonen ausgestattet, die eine tödliche Hitzewelle produzieren können“, erklärt der panamaische Schriftsteller Jesus Martinez, der selbst ausgebildeter Militärpilot ist. „Einmal sah ich diesen roten Strahl, der aus dem Jagdbomber herauszischte“, fügt er hinzu, „die Wohnviertel wurden für die US-Streitkräfte zu Übungsplätzen, auf denen neue Waffen ausprobiert wurden - nur daß anstelle von Pappattrappen Menschen aus Fleisch und Blut als Zielscheibe dienten.“

Den überlebenden Zielscheiben, die vor mir stehen, ist noch immer das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, als sie von den Tausend-Kilo-Bomben erzählen, die das Hauptquartier der ehemaligen Nationalgarde Panamas dem Erdboden gleichgemacht haben. Allein die Druckwelle hatte viele der eng beieinanderstehenden Holzhütten wie Kartenhäuser zusammenfallen lassen. Heute ist dieser Stadtteil ein riesiger menschenleerer Platz, an dem nur ein einziges, halbverfallenes Gebäude wieder instand gesetzt wurde: das Gefängnis von Chorrillo.

„Wir haben eine

unbeschreibliche Wut“

Alle Versuche der Obdachlosen, ihre Hütten auf diesem Platz wieder aufzubauen, sind gescheitert. Der Boden soll dem neuen Vizepräsidenten Ricardo Arias Calderon gehören, heißt es. Gerüchte? Fest steht jedenfalls, daß dort, wo einst die Bauarbeiter des Panamakanals ihre Wohnungen errichtet haben, ein modernes Geschäftszentrum errichtet werden soll. Die kriegsgeschädigten Bewohner hingegen will die Regierung mit einer Summe von 6.500 US-Dollar pro Familie abspeisen. Das Geld soll jedoch nicht an sie, sondern auf das Konto eines Bauunternehmens überwiesen werden - und auch das erst dann, wenn sie akzeptieren, sich auf einem außerhalb der Stadt gelegenen Grundstück ohne Elektrizität und Wasser niederzulassen.

Um gegen die Vorgehensweise der Behörden zu protestieren, hatten die Obdachlosen Anfang März die Punte de las Americas besetzt, jene berühmte Hängebrücke, die den Norden des amerikanischen Kontinents mit dem Süden verbindet. Nach drei Tagen gab das Southern Command den nach der Invasion geschaffenen sogenannten „Öffentlichen Ordnungskräften“ den Einsatzbefehl. Diese gingen mit Gummigeschossen auf die verzweifelte Menschenmenge los, wobei acht Personen verletzt wurden.

„Wir haben eine unbeschreibliche Wut auf die US-Regierung, die mit ihrer Invasion hier alles zerstört hat und uns jetzt verrecken läßt“, schreit plötzlich die 43jährige Lotterieverkäuferin Luciana Zapata. Ihren Protest hört auch die Frau des panamaischen Außenministers Linares, die mit ihrem Chauffeur erschienen ist, um einen Sack Bohnen abzuliefern. Sie hat unserem Gespräch seit einiger Zeit gelauscht und versucht nun, beschwichtigend einzugreifen. Doch nach wenigen Worten wird sie vom Chor der Unzufriedenen übertönt. Da sie sich nicht durchsetzen kann, wird sie zornig: „Wenn ihr so daherredet, dann sollt ihr in Zukunft eben Kabel fressen.“ Sie wendet sich ab und besteigt erzürnt ihre Luxuslimousine.

Politische Zeitbombe

Fast drei Monate nach der Invasion gehen die Schätzungen über die Zahl der Getöteten immer noch weit auseinander. Während Beamte der ehemaligen Regierung Noriega weiterhin von 8.000 getöteten Zivilisten sprechen, geht die US -Regierung von 314 getöteten panamaischen Soldaten und 202 Zivilisten aus. Präsident Endara glaubt, daß in den Kämpfen weniger als 600 Menschen umkamen, die Untersuchungskommission des ehemaligen US-Justizministers Ramsey Clark schätzt, daß 3.000 Panamaer starben.

Verschiedene Menschenrechtsorganisationen in den USA und Panama, die sich an einer unabhängigen Schätzung der Invasionsopfer versucht haben, sprechen dagegen von mehreren hundert Toten. Die in Washington ansässige Organisation „Americas Watch“ hat mindestens 100 Ziviltote ausfindig gemacht, die von der US-Regierung nicht mitgezählt worden sind. Die katholische Kirche in Panama sowie das „Center for Investigation of Human Rights and Legal Aid“ schätzt dagegen, daß zwischen 500 und 700 Panamer die US-Invasion mit ihrem Leben bezahlen mußten. Zieht man die Zahl der von den verschiedenen Organisationen geschätzten Verletzten hinzu und setzt sie in ein Verhältnis zu der Anzahl der Getöteten, dann dürfte deren Zahl bedeutend über den offiziellen US-Zahlen liegen, aber nicht mehr als 1.000 betragen.

Für den politischen Sekretär der US-Botschaft in Panama sind jedoch alle diese Hochrechnungen nach wie vor „einfach absurd“. Er befindet sich mit seinem hartnäckigen Schweigen auf der gleichen Linie wie sein Vizepräsident Dan Quayle, der vor einigen Wochen erklärt hat, daß „das Kapitel Panama abgeschlossen“ sei. „Für wen?“ fragt sich Isabel Coro, die derzeit in der panamaischen und internationalen Öffentlichkeit mit unermüdlichem Einsatz darum kämpft, daß ihr die Erlaubnis zur Exhumierung der Massengräber erteilt wird. Denn sie weiß, daß unter dem lockeren Erdboden eine politische Zeitbombe tickt, die früher oder später die Sieger von gestern als Massenmörder entlarven wird.

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