: Eine moderne Verfassung
Der Bremer Jura-Professor Ulrich K. Preuß über Erfahrungsverarbeitung und deutsch-deutsche Kooperation für eine neue DDR-Verfassung ■ I N T E R V I E W
taz: Sie haben an der Endredaktion des Verfassungsentwurfes mitgearbeitet, der jetzt der DDR-Volkskammer vorliegt. Was war da Ihre Rolle?
Ulrich K. Preuß: Die Arbeitsgruppe „Neue Verfassung der DDR“, die vom Runden Tisch eingesetzt worden war, hatte beschlossen, daß sich jede der dort vertretenen Parteien durch einen externen Experten beraten lassen kann. Ich bin vom Neuen Forum eingeladen worden und habe in der entscheidenden Phase, seit Ende März, mitgearbeitet. Meine Aufgabe bestand nicht darin, mich in die politisch entscheidenden Sachfragen in irgendeiner Form einzuschalten. Sondern ich hatte einerseits juristisch-technische Aufgaben; andererseits konnte ich natürlich die bundesrepublikanischen Erfahrungen über Implikationen bestimmter Regelungen weitergeben.
Gab es nur „linke“ Experten?
In der Redaktionsgruppe, etwa zehn Leute, wirkten durchaus zwei Experten der CDU und auch ein Vertreter der SPD mit. Die Formulierungen, die wir gefunden haben, sind jeweils von allen im Konsens getragen. Am Ende wurde sogar die Zurechnung zu bestimmten Parteien gar nicht mehr richtig aufrechterhalten.
Bezüglich der bundesrepublikanischen Erfahrungen: Was ist davon von Ihnen, aufgrund Ihrer politischen Erfahrungen, an die Gruppe herangetragen worden?
Zunächst einmal muß man sagen, daß hier nicht bundesrepublikanische Erfahrungen in dem Sinne behandelt wurden, daß jetzt gewissermaßen verlorene Schlachten nun nachträglich gewonnen werden sollten. So habe ich meine Arbeit nicht verstanden. Die Initiative zu bestimmten Regelungen kam von den Teilnehmern der DDR. Meine Aufgabe war es, meine Erfahrungen mitzuteilen auf dem Hintergrund ähnlicher oder gleicher Regelungen im Grundgesetz. Es ging nicht darum, ein besseres Grundgesetz zu produzieren,.
Manche Formulierungen lassen sich aber doch wie ein Kommentar zum Grundgesetz und zur Spruchpraxis des Verfassungsgerichtes lesen; zum Beispiel bei der Frage des Verbotes verfassungswidriger Parteien ist der Bezug auf das KPD-Verbot unübersehbar.
Das ist richtig. Solche Erfahrungen wurden reflektiert. Die Problematik des Parteienverbots oder des Berufsverbotes wurde natürlich von uns eingebracht. Auch haben wir im ganzen Grundrechtsteil das Diskriminierungsverbot an die Würdenorm (Art.1 GG) angehängt: daß alle Menschen gleich sind, niemand wegen seiner Rasse verfolgt werden kann, haben wir direkt mit der Menschenwürde verbunden. Das ist gegenüber dem Grundgesetz kein neuer Gedanke, aber doch eine bewußte Klarstellung. Das gilt auch noch für andere Normen. Mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit haben wir das Selbstbestimmungsrecht der Frau auf Schwangerschaft verbunden. Den Schutzauftrag des Staates für das ungeborene Leben haben wir beschränkt auf das Angebot sozialer Hilfen.
Nun ist der Grundrechtkatalog im DDR-Verfassungsentwurf sehr viel umfangreicher als der des Grundgesetzes. Muß man da nicht vermuten, daß gewissermaßen auch politische Programmsätze eingeflossen sind?
Das hängt mit zwei Dingen zusammen: Erstens haben wir Grundrechte, die beim Grundgesetz aus dem sogenannten „Muttergrundrecht“ - Art.2, Freiheit der Persönlichkeit entwickelt werden, ausdrücklich herausgenommen und spezifiziert. Dazu gehören die Bestimmungen zur Selbstverfügung des einzelnen über seine persönlichen Daten. Dann haben wir das Grundrecht der Freizügigkeit hinsichtlich der Ein- und Ausreise - was ja für die DDR von besonderer Bedeutung ist - differenziert. Wir haben auch - was leicht übersehen werden kann - einen Teil der Grundrechte, die sogenannten Justizgrundrechte, die im Grundgesetz hinten in den Art.101ff. stehen, in den Grundrechtkatalog aufgenommen. Der zweite Grund ist allerdings, daß wir einige soziale und politische Grundrechte aufgenommen haben.
Was ist denn nun der „Geist der Verfassung“?
Es gibt einmal leicht überlesbare Vorschriften zum Übergang, Art.132ff. Das ist ein Versuch der Wiedergutmachung des Naziunrechts. Das betrifft das Recht auf bevorrechtigte Einbürgerung im wesentlichen von jüdischen Flüchtlingen aus Ost-Europa. Das ist ein Hinweis auf die Verantwortlichkeit eines deutschen Staates gegenüber der Nazi-Vergangenheit. Was die Diktatur in der DDR anbelangt, so reflektiert der Grundrechtsteil einige der Erfahrungen von Unterdrückung. So haben wir das verfassungsmäßige Recht, daß niemand verpflichtet ist, denunziatorisch tätig zu werden, verankert.
Worin besteht die Modernität dieses Verfassungstextes?
Nun, darin, daß er die klassische Zweiteilung zwischen dem Staat auf der einen Seite und dem Individuum auf der anderen'ergänzt und erweitert zu einer Trias. Hinzu kommt in diesem Entwurf nämlich das, was die Amerikaner civil society nennen, die Zivilgesellschaft. Das betrifft die gesellschaftlichen Gruppen und Verbände, die Bürgerrechtsbewegungen, die public interest groups, die ja in den Verfassungen noch nirgends anerkannt sind. Durch Eingriffsrechte dieser Gruppierungen haben wir der civil society eine verfassungsrechtliche Wirklichkeit gegeben. Das ist neu, modern, sogar wegweisend.
Wie verhält sich die Verfassung zu der Grundgesetzalternative hinsichtlich der deutschen Einigung, zum Beitritt nach Art.23 oder Verfassunggebende Versammlung nach Art.146?
Zunächst einmal steht in der Verfassung das Ziel der staatlichen Einheit. Das ist die Grundlage. Sie ist als Übergangsverfassung, wahrscheinlich für einen sehr kurzen Zeitraum entworfen, wenn sie denn überhaupt in Kraft tritt. Die politische Prämisse ist gewesen: Der Beitritt nach Art.23 ist der wahrscheinlichste Fall. Darauf haben wir uns auch eingestellt. Wir haben zwar in dem Schlußartikel auch die Möglichkeit einer Verfassunggebenden Versammlung vorgesehen ...
Ist das bewußt so abgefaßt worden wie der entsprechende Schlußartikel des Grundgesetzes?
Ja, in bewußter Analogie. Die Verfasser gehen davon aus, daß der Weg einer Verfassunggebenden Versammlung für die deutsche Vereinigung nach 146 GG bzw. nach 137 im Entwurf richtiger ist. Für politisch wahrscheinlicher halten wir aber den Fall des Beitritts. Dafür haben wir ausführliche Regelungen im Art.134 geschaffen. Sie besagen, daß die Regierung verpflichtet ist, einen Vertrag mit der Bundesregierung über die Bedingungen des Beitritts auszuarbeiten, der dann - und das ist entscheidend - in einem Volksentscheid der Bevölkerung der DDR bestätigt werden muß. Dadurch bekäme dann der Vertrag auch den Charakter einer Verfassungsentscheidung. Zudem sind in diesem Artikel gewissermaßen Direktiven festgeschrieben für die Regierungsverhandlungen; sie besagen, daß ein bestimmter Standard der Grundrechte nicht aufgegeben werden darf. Das betrifft beispielsweise die Abtreibungsfrage. Gleichzeitig haben wir natürlich auch hineingeschrieben, daß die Regierung auf eine Verfassunggebende Versammlung hinarbeiten muß.
Das sind doch ziemlich trickreiche Bestimmungen, die nahelegen sollen, daß doch der Weg über eine Verfassunggebende Versammlung der richtigere und kürzere sei?
Wir wollten auf jeden Fall verhindern, daß die DDR als Minderheit von vorneherein überstimmt werden kann. Es geht um das Recht der Beteiligung der DDR-Bevölkerung am Prozeß der Selbstbestimmung der Deutschen und mithin um einen Minderheitenschutz für die DDR-Bevölkerung.
Was sind denn die Chancen des Entwurfes?
Es gab Zeiten, wo wir dachten, wir würden doch nur für den Papierkorb arbeiten. In den letzten Wochen hat sich das geändert, vor allem, nachdem ein gewisses Interesse aus den Kreisen der SPD und der CDU deutlich wurde. Sie haben begriffen, daß sie eine Verfassung brauchen, zumal in den nächsten Wochen ständig Verfassungsänderungen ins Haus stehen, um überhaupt ein regierungsfähiges Land herzustellen. Deswegen glauben die Verfasser, daß es für die Volkskammer sehr attraktiv sein kann, für die weiteren Beratungen eine in sich konsistente Verfassungsgrundlage zu besitzen. Diesen Anspruch erfüllt der Entwurf.
Interview: Klaus Hartung
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