: „Wir waren Rumänien sehr nahe“
Erstes Interview des polnischen Innenministers zu Hintergründen der blutigen Dezemberunruhen 1970 - Antwort auf Rücktrittsforderung von Solidarnosc? ■ E S S A Y
Edward Gierek hatte als erster davon gesprochen: General Jaruzelski sei 1970 nicht am Schießbefehl an der Küste - der 45 Menschen den Tod brachte - beteiligt gewesen, er habe unter Hausarrest gestanden. Ryszard Kuklinski, ein in CIA -Diensten stehenden Überläufer, der den USA 1981 Einzelheiten zum geplanten Kriegszustand übermittelte, bezweifelte das: Jaruzelski habe als Verteidigungsminister die Aktionen selbst geleitet. Der Verteidigungsminister war bei der entscheidenden Politbürositzung am 15. Dezember, die auch Kiszczak beschreibt, anwesend. Seine Rolle ist bis heute unklar. Von Kiszczak beigesteuerten Einzelheiten über die Tätigkeit von Gomulkas „rechter Hand“, Zenon Kliszko, und General Korczynski decken sich weitgehend mit Berichten aus anderen Quellen. Wer letztlich hinter Korczynski und den Putschplänen stand, läßt auch Kiszczak offen.
KB
'Trybuna‘: Was wäre Ihrer Ansicht nach in Polen geschehen, (...) wenn statt politischer Lösungen der Wille zu Gewaltlösungen die Oberhand gewonnen hätte?
Czeslaw Kiszczak: Anstelle einer Antwort möchte ich ein entsprechendes historisches Beispiel anführen (...) Wir waren Rumänien sehr nahe im Dezember 1970. Schüsse, Tod und Tragödie, Chaos und Unsicherheit, konfrontative Phraseologie in der in- und ausländischen Propaganda (...) Die damalige Führungsmannschaft, das heißt eigentlich einige Personen aus der Umgebung Wladyslaw Gomulkas, nahmen an, daß der Ausbruch, die Unruhen und Zusammenstöße an der Küste sich ausbreiten und auf das ganze Land ausdehnen könnten. In Anlehnung an auf höchster Regierungs- und parteiamtlicher Ebene getroffene Beschlüsse wurde ein Teil des Militärs aus den Kasernen geholt. Dabei rechnete man damit, daß dies eine beruhigende, präventive Rolle spielen würde - die Küste brannte schon, und die Spannung im Land stieg bereits gefährlich. Die Einheiten marschierten zu Sammelpunkten in der Nähe einiger großer Städte und Industriekomplexe. Auch im Innenministerium wurde volle Bereitschaft angeordnet. (...) Einige höhere Offiziere der Führung des Verteidigungsministeriums wußten gut über die Entwicklung bescheid und waren gegen einen Einsatz des Militärs, gegen eine gewaltsame Lösung - Waffenanwendung eingeschlossen des Konflikts. Ich gehörte auch zu dieser Gruppe, deren Mitglieder einander vertrauten. Wir vertraten die Ansicht, daß man stattdessen zu einer politischen Lösung finden und das Militär zurück in die Kasernen holen müsse.
War General Jaruzelski auch unter den Offizieren, von denen die Rede ist?
Ja, er spielte eine führende Rolle.
Warum hat er dann nicht einfach die Entscheidung getroffen, das Militär von der Straße zu holen? Oder stimmen etwa die Gerüchte, wonach er unter Hausarrest stand?
Nein, das sind tatsächlich Gerüchte. (...) General Jaruzelski entschied, obwohl er damals Verteidigungsminister war, nicht allein über die Aktionen des Militärs. Die Entscheidungen über den Einsatz der Armee an der Danziger Küste entstanden praktisch außerhalb der normalen Führungsstruktur unter Umgehung des Generalstabs der polnischen Armee und des Verteidigungsministers. Sie hatten aber volle offizielle Gültigkeit, weil sie von der höchsten partei- und regierungsamtlichen Ebene, aus den wichtigsten Gremien kamen - direkt vom Stellvertretenden Verteidigungsminister Gen. Grzegorz Korczynski, der von Gomulka als dessen Sekretär und Vertrauter direkt in die Dreistadt (poln. Bezeichnung für Danzig, Gdingen und Sopot, KB) geschickt wurde. So entstand also ein direkter Lenkungskanal in der Dreistadt, ein im Grunde informeller Kanal, dessen Bestehen die Lage komplizierte und Hauptgrund für das Entscheidungschaos und die in ihren Auswirkungen tragischen Mißverständnisse wurde. Außerdem blieb Zenon Kliszko (Gomulkas Stellvertreter als Parteichef, KB) seit Beginn der Ereignisse an der Küste. Er spielte eine ungewöhnlich wichtige Rolle, indem er unmittelbar im Namen Gomulkas auftrat, gab er Dispositionen aus und verlangte ihre Ausführung.
Und was sagten die zuständigen Führer dazu?
Es ist an der Zeit, daß wir die Tatsache öffentlich machen, daß wir damals den recht riskanten Versuch machten, der unvorhersehbaren Entwicklung entgegenzuwirken. Es war klar, daß nicht die gesamte Partei- und Staatsführung die extremen und vereinfachenden Ansichten über die Ursachen des Arbeiterprotests und den Charakter der Ereignisse teilte (...) In der Führung traten folglich Risse und Gegensätze auf. Dadurch ergab sich die Chance, einer Gewaltlösung vorzubeugen.
Was wurde unternommen, was haben Sie persönlich getan?
Am 19. Dezember 1970 fand die erste Politbürositzung seit dem Ausbruch an der Küste statt, eingeladen war dazu unter anderem Wojciech Jaruzelski als Verteidigungsminister. (...) Soviel ich weiß, gab es den Gedanken, Gomulka für krank zu erklären und vorübergehend durch eines der Politbüromitglieder zu ersetzen, was unbegrenzte Möglichkeiten für Manipulationen auf Gomulkas Rechnung eröffnet hätte. (...) Wir erfuhren damals, daß die „Brigade der Inneren Verteidigung“ (Armeeeinheiten des Innenministeriums, KB), die in Gora Kalwarii stationiert war und General Grzegorz Korczynski unterstand, aus der Kaserne und auf Warschau zugeführt wurde. Es war äußerst wichtig, daß Jaruzelski, der seit einigen Stunden an der Politbürositzung teilnahm, über die laufende Lage zu informieren (...) Diese Daten mußten dem Verteidigungsminister schnell mitgeteilt werden. Es wurde entschieden, daß ich das zusammen mit General Mieczyslaw Grudzien tun sollte.
Haben Sie damals eine Entscheidung getroffen über die Verwendung der Ihnen unterstellten Armeeinheiten?
Ja, ich war damals Stellvertretender Chef der Militärpolizei des Verteidigungsministeriums, und mit Zustimmung meines unmittelbaren damaligen Vorgesetzten versetzte ich die der Inneren Abteilung unterstehenden Einheiten in Kampfbereitschaft und ließ scharfe Munition ausgeben. Wir hatten natürlich nicht die Absicht, irgendwelche größeren militärischen Operationen durchzuführen (...) Es ging nur um Bereitschaft und schnelles Handeln. (...) Oberst Wladyslaw Anders teilte sämtlichen Einheiten der Militärpolizei im ganzen Land mein kategorisches Verbot mit, gegen die Zivilbevölkerung Waffen einzusetzen.(...)
Gelangten Sie mit General Grudzien zusammen zu General Jaruzelski, und haben Sie ihn über ihre Vereinbarungen, Erkundungen und Aktionen unterrichtet?
Ja, das ist uns gelungen. (...)
Und dann?
Auf der Politbürositzung fiel die Entscheidung, einen Teil der Staats- und Parteiführung und den Ersten Sekretär (Wladyslaw Gomulka, KB) auszuwechseln. Es wurde vereinbart, daß Edward Gierek diese Funktion einnehmen sollte. (...)
Sind Sie der Ansicht, daß es außer der Armee in Polen noch eine andere, bedeutende Kraft gab, die wirkungsvollen Druck in Richtung auf Demokratisierung und Einstellung der Gewaltanwendung ausüben konnte?
Zum Glück gab es solche Politiker und Aktivisten sowohl in der Zentrale wie draußen, die realistisch dachten und gegen die Anwendung nicht-politischer Mittel angesichts eines gesellschaftlichen Konfliktes waren.
Wer hat denn dann den Befehl gegeben zu schießen? Welche Rolle spielte Stanislaw Kociolek? War die Rolle Zenon Kliszkos und General Grzegorz Korczynskis wirklich so bedeutend?
(...) Die Entscheidung, die Waffen einzusetzen, fällte Wladyslaw Gomulka unter dem Eindruck alarmierend klingender Nachrichten von der Küste am 15. Dezember während der um 9.00 Uhr morgens begonnenen Beratung in Warschau. Sie wurde gefällt in Anwesenheit u.a. des Staatsratsvorsitzenden (damals Marian Spychalski, KB) und des Premier (damals Jozef Cyrankiewicz, KB), also der höchsten Staatsorgane, und nahm damit amtlichen Charakter an. Um 9.50 Uhr teilte Premier Cyrankiewicz diese Entscheidung persönlich General Korczynski in Danzig mit, und um 9.55 Uhr übermittelte er sie der Wojewodschaftskommandantur der Miliz in Danzig. Aufgrund dieser Entscheidung gab der Innenminister am 15. Dezember 1970 die Verordnung Nr. 0108/70 heraus, in der er den Beamten zur Selbstverteidigung, zur Verteidigung anderer (...) den Waffengebrauch erlaubte. Die Führung des Verteidigungsministeriums bemühte sich auch, die Sicherungen zu vermehren, um voreilige, nervöse und eventuell tragische Handlungen zu unterbinden. Der Generalstab verbot den Einsatz von Panzerwaffen und verfügte vor allem den Gebrauch der ausgegebenen Schreckschußmunition. (...) Außer der Tatsache des Waffeneinsatzes unter Bedingungen von Straßenkämpfen, Überfällen und Zerstörungen, was zur höchsten Opferzahl führte, waren die Vorfälle um die Werft besonders schmerzlich. Der Waffeneinsatz durch die militärischen Unterabteilungen erfolgte nämlich zumindest in zwei Fällen infolge des Entscheidungschaos (...) durch den eigenen Entscheidungskanal von Gomulka zu Korczynski und durch Zenon Kliszkos Aktivitäten in Danzig, der informelle und unklare, aber ungewöhnlich weitreichende Vollmachten dort hatte. Es ist bekannt, daß auf seine Anweisung hin am 15. Dezember die Danziger Werft abgeriegelt und am nächsten Tag auf diejenigen, die sie verlassen wollten, geschossen wurde. Ähnlich tragische Folgen hatte seine Entscheidung vom 16. Dezember, den Zugang zur Pariser-Kommune-Werft in Gdynia zu blockieren, wovon Stanislaw Kociolek (damals Erster Wojewodschaftssekretär in Danzig, KB), der am gleichen Tag in den Massenmedien zur Rückkehr an die Arbeit aufrief, nichts wußte. Am Morgen des 17. Dezember trafen die Arbeiter auf dem Weg zur Werft auf den Blockadekordon, der wegen der herandrängenden Menge von der Waffe Gebrauch machte. Es kam zur Tragödie, es starben Menschen, Polen. (...)
Übersetzung: Klaus Bachmann
Das (gekürzte) Interview mit dem polnischen Innenminister Czeslaw Kiszczak erschien am 6.4.1990 in der polnischen Tageszeitung 'Trybuna‘.
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