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Schmücker-Prozeß: Todeszeit fraglich

■ In dem Endlosverfahren lagern wesentliche Akten der Justizbehörden nach wie vor im Panzerschrank

Berlin (taz) - Nachdem die 18. Strafkammer am Kriminalgericht in Moabit zu Wochenbeginn die Entscheidung über eine Einstellung des Schmücker-Prozesses zurückstellte, forderten die 15 RechtsanwältInnen gestern die Richter auf, das Verfahren solange auszusetzten, bis dem Gericht sämtliche Akten vorliegen.

Daß es in der vierten Hauptverhandlung um die Ermordung des Studenten Schmücker mittlerweile weniger um den Tatvorwurf als um die Verstrickungen der Geheimdienste geht, belegte gestern der Verteidiger Clemens Rothkegel. Der Anwalt beantragte, daß eine seit 16 Jahren verborgene Akte offengelegt werde. Er zitierte daraus einen Vermerk der Berliner Justizverwaltung. Danach habe ein Sachbearbeiter der Berliner Senatsverwaltung bereits am Tag nach der Ermordung Schmückers dem Oberstaatsanwalt Nagel den Zeitpunkt, als der sterbende Schmücker aufgefunden wurde, mit 1.30 Uhr angegeben. In den bisherigen drei Verhandlungen war immer von 0.30 Uhr die Rede gewesen, damit müßte auch der Todesschuß eine Stunde früher abgegeben worden sein. Für die Verurteilung des Angeklagten Wolfgang W., dem der tödlichen Schuß zur Last gelegt wird, war der Tatzeitpunkt in den vorangegangen Prozessen von erheblicher Bedeutung. Sollten die Informationen zutreffen, käme der 35jährige Student als Täter nicht mehr in Frage.

Von den AnwältInnen wurde insbesondere beanstandet, daß eine Vielzahl der Akten der Verteidigung und teilweise auch dem Gericht nicht vorlägen. Darüber hinaus forderten sie bis zur Wiederaufnahmen des Verfahrens sicherzustellen, daß den Rechtsvertretern der fünf Angeklagten genug Zeit bleibe, sich durch die Aktenberge zuarbeiten. Anderenfalls sei eine „wirksame Verteidigung“ nicht möglich. Bei den fehlenden Unterlagen handelt es sich um Akten des hessischen Landeskriminalamtes, der Verfassungsschutzämter in Köln, Hessen und Berlin sowie um Papiere des Bundeskriminalamtes in Wiesbaden und des Berliner Polizeipräsidenten. Die Unterlagen, aus denen die Rolle des Hauptbelastungszeugen Bodeux, der V-Männer Weingraber und Hain sowie eine Mitarbeit des Mordopfers Schmückers beim Berliner VS hervorgehen sollen, werden teilweise von den Behörden zurückgehalten - teilweise wurden sie mit Schwärzungen und Fehlblättern versehen dem Gericht übergeben. Der kollegiale Rat eines der Verteidiger an die Vorsitzende Richterin Tepperwien: Ihre einzige Chance, in dem Prozeß weiterzukommen, sei, „auf den Tisch zu hauen“ und beispielsweise dem hessischen Landeskriminalamt „klar zu machen, daß es nicht mehr so wie mit den drei vorherigen Strafsenaten umgehen“ könne.

Wolfgang Gast

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