: Von Gorbi zu Helmut
■ Die 150 Tage des Hans Modrow/Der Ex-Ministerpräsident zieht Bilanz
Es waren die Nachrichten über Glasnost und Perestroika, die dem Bild der DDR die ersten neuen Konturen gaben. Zunächst noch ganz vage. Offenheit und neues Denken wurden zu Stichworten auch für notwendige Veränderungen in der DDR.
Wenn es eines Beweises für die Gefährlichkeit von Glasnost und Perestroika für die scheinbar unzerstörbare Politbüro -Herrschaft in der DDR bedurfte, so lieferte ihn die eifernde Gegnerschaft Erich Honeckers. Er wollte diese zwei Worte nicht hören. Das spektakuläre Verbot des sowjetischen Magazins 'Sputnik‘ Mitte November 1988 war dafür nur ein außeres Indiz. Honeckers Grundeinstellung hat sich auch in diesem Punkt nicht geändert, wie ich im Gespräch mit ihm am 23. März im Pfarrhaus von Lobetal feststellen mußte.
Die Oktoberrevolution der DDR begann, als streitbare Bürger, eines verlogenen Sozialismus überdrüssig, auf die Staßen der Großstädte gingen. Sie wurden - fassungslos oder wütend, ängstlich oder neugierig - aus Amtsstuben und gutbürgerlichen Häusern beobachtet, aus Altersheimen und, was damit fast gleichbedeutend war, aus der zweiten Etage des ZK-Gebäudes der SED. Dort saßen jene, die sich zu Befehlshabern der DDR aufgeschwungen hatten und die Meinung des Volkes nicht mehr wissen wollten, weil sie glaubten, die Wahrheit gepachtet zu haben.
Dort freilich, auf der Politbüro-Etage, wo jeden Morgen die Frühstücksangebote mit feinstem Obst aus West-Berlin herumgefahren wurden, nahm man die Ereignisse nur auf dem Papier, in Berichtsform zur Kenntnis: die Ausreisewelle über die Tschechoslowakei und Ungarn ebenso wie die beginnenden Demonstrationen. Die offizielle Antwort war zunächst Schweigen, beredt genug und den Unmut auch vieler der zwei Millionen SED-Mitglieder schürend.
Aber nie war die sogenannte Partei- und Staatsführung vom Volk so isoliert wie in den Tagen um diesen letzten Staatsfeiertag. Nie war eine offizielle Rede in der DDR wirklichkeitsferner und verlogener als Honeckers Ansprache zum 7. Oktober. Ich kann mich dieses Tages nur mit Bitterkeit erinnern.
Ob in Berlin oder in den Bezirken der DDR - Anfang Oktober 1989 bot sich ein eigenartiges, fast unwirkliches Bild. Die feierlichen Veranstaltungen trugen noch das Gepräge einer heilen Welt, vor allem in der Hauptstadt. Volksfeste nahmen den gewohnten Verlauf mit Belustigungen, Musik und der unvermeidlichen Bockwurst. Zugleich aber wurden an den Abenden in ersten Demonstrationen grundlegende demokratische Veränderungen gefordert. Ein politisches Wetterleuchten ging über die DDR.
In Dresden war es zuvor zu schweren Zusammenstößen am Hauptbahnhof und im Bahnhofsgebäude gekommen. Tatsächlich war
dies eine Abweichung vom typischen Verlauf der Revolution, die vor allem zu ihrem Beginn von den Parolen „Wir sind das Volk!“ und „Keine Gewalt!“ gekennzeichnet war. In Dresden ging es Tausenden darum, auf die überfüllten, in Richtung Bundesrepublik fahrenden Übersiedler-Züge aufzuspringen. Die Oktoberrevolution aber ist nicht von Ausreisern aus Prag gemacht worden, sondern von Hierbleibern, wie immer auch die Ausreisewelle dazu beitrug, das Faß zum Überlaufen zu bringen.
Drei Sonderzüge aus Prag mit Botschaftsbesetzern wurden in der Nacht vom 4. auf den 5. Oktober durch Dresden geleitet. Ich habe beim damaligen Verkehrsminister Otto Arndt telephonisch versucht, diesen Unsinn, ja Wahnsinn zu verhindern. Vergebens, denn Arndt sagte mir, er habe so eindeutige Weistungen, daß er sich nicht anders verhalten könne. Es erübrigt sich zu sagen, woher diese Befehle kamen. Der Wahnsinn bestand in der Idee, die Leute sollten über das Gebiet der DDR in die Bundesrepublik fahren und unterwegs, im Zug, „ordnungsgemäß“ aus der Staatsbürgerschaft entlassen werden. Die Sonderzüge hielten nicht. Der Hauptbahnhof wurde von Einsatzkommandos abgeriegelt, die mit Gewalt und, wie sich später herausstellte, mit Brutalität vorgingen, auch selbst angegriffen wurden. Entgegen anders lautenden Behauptungen in westlichen Medien habe ich den Einsatz weder befehligt noch dirigert. Die Befehle kamen von den Führungsstäben in Berlin.
Man mag darüber streiten, ob eine Revolution nie den Zielen treu bleiben kann, für die sie angetreten ist. In der DDR jedenfalls ist eine politische Mutation erfolgt - eine Veränderung des Ziels in einer Hauptsache. Tatsächlich wurde binnen kurzem aus „Wir sind das Volk“ der Ruf „Wir sind ein Volk“, zumindest anfänglich von scharf intoleranten Tönen begleitet. Man kann diese Mutation für erklärlich halten angesichts dessen, was dem DDR-Bürger in vier Jahrzehnten vorenthalten wurde. Jedem Fahrer eines Trabants mußte ja zum Beispiel der Unterschied seines langerwarteten Autos zu einem in der Bundesrepublik sofort käuflichen „Westwagen“ aufgefallen sein. Bedenklich ist aber, daß der Zug der Vereinigung so viele Fahrgäste hat, die wirklich nur auf den Westwagen - als Synonym für alle anderen durchaus erklärlichen Wünsche - aufspringen wollen, die bei der Wahl am 18. März wirklich nur die D-Mark gewählt haben, und die wirklich sehr weit entfernt sind von den Gedanken der demokratischen Revolution, die ja in der DDR gemacht worden ist und nicht in Bonn.
Diejenigen, die das stolze Wort „Wir sind das Volk“ als erste auf die Straße getragen und skandiert haben, wollten eine bessere, eine demokratische DDR (also müssen sie doch eine erhaltenswerte Substanz gesehen haben). Viele von ihnen
sind nun verstummt, sind inaktiv geworden. Andere leben mit neuen Zweifeln. Christa Wolf sagte mir, intolerant gröhlende Fahnenschwenker mit Schwarz-Rot-Gold vor Augen, dies sei nicht ihr Volk. Ist da zu viel Bitternis?
Mein Bekenntnis zu „Deutschland, einig Vaterland“, der Hymne der DDR entnommen, nehme ich nicht zurück. Es folgte letztlich aus der Überlegung, daß die Menschen einer in zwei Staaten gespaltenen Nation das Recht haben, sich in einem Staat zu vereinen.
Honeckers These von zwei deutschen Nationen, einer sozialistischen und einer kapitalistischen, die ihm vermutlich eingeredet worden ist, habe ich schon vor Jahr und Tag nicht mittragen können, weil sie meinem Verständnis von deutscher Kultur und Geschichte widersprach.
Mögen andere, Gerechte und Ungerechte, darüber urteilen, wie meine Regierung in weniger als fünf Monaten gearbeitet hat. Sicher ist, es war das ungewöhnlichste Kabinett, das je vereidigt worden ist. An den Start ging es mit einer Koalition aus fünf alten Parteien, und man nannte sie schon eine große. Die Geschäfte gab das Kabinett ab als eine Koalition von dreizehn Parteien, darunter acht neuen.
Diese Koalition, Ende Januar bis in die Nacht beraten und ausgehandelt, hat wesentlich dazu beigetragen, daß die DDR die schwierige Phase bis zur ersten freien Wahl eines Parlaments besser bewältigt hat als jedes andere RGW-Land in dem verlgeichbaren Zeitabschnitt - sozialökonomisch und innenpolitisch, noch dazu ohne einen Pfennig von der Regierung in Bonn für die Regierung in Berlin.
Am Runden Tisch haben die neuen Parteien und Gruppen ihr politisches Profil gewonnen, und die schon etablierten Parteien konnten in den Prozeß ihrer Wandlung eintreten. Das gilt meines Erachtens am stärksten für die ehemalige SED, die trotz aller auf sie gerichteten Angriffe unter Leitung von Gregor Gysi eine Erneuerung zur Partei des demokratischen Sozialismus vollzog. Wie sie in einem künftigen Deutschland bestehen wird, muß sich zeigen. Ich vertraue vor allem auf die vielen jungen Leute, die mich bedrängt haben, für die Volkskammer zu kandidieren.
Der Runde Tisch, welche Hitzigkeiten es dort auch immer gab, wurde zu einer Schule der Demokratie. Bei allem Interesse, sich parteipolitisch zu profilieren, überwog die gesamtstaatliche, gesellschaftliche Sicht. Wir haben untereinander die politischen Feindbilder weitgehend aufgegeben. Bundeskanzler Kohl wurde von einem der acht neuen Minister in der DDR-Regierungsdelegation darauf aufmerksam gemacht, daß dieser Prozeß zwischen den neuen Regierungsmitgliedern aus der Opposition offenbar weitgehender ist als zwischen den beiden deutschen Regierungen.
Es mag sein, daß aus der für mei
nen Geschmack oftmals etwas hohen Warte der saturierten Bundesrepublik alle solche Erfahrungen aus schicksalhaften Monaten der DDR kein Gewicht haben. Vielleicht aber verdienen sie, für einen viel größeren bedeutsamen Vorgang, der nun ansteht, nutzbar gemacht zu werden: die bisher noch nie erlebte Zusammenführung zweier Staaten einer Nation, die aus zwei gesellschaftlichen Systemen kommen.
Gekürzt aus 'Die Zeit'
vom 13. April 1990
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