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Die Erfurter und ihre Revolution

Im Herbst war die halbe Stadt auf den Beinen, heute verteidigen einige Unentwegte die Revolution / Die Verwaltung regiert und die Bürger haben neue Sorgen  ■  Von Walter Süß

Über drei Jahrhunderte lang wurde Erfurt vom Petersberg aus beherrscht, der am Rande des alten Stadtzentrums liegt. 1665 hatte der Erzbischof von Mainz eine Zitadelle bauen lassen. 920 Mann wurden in der Festung stationiert, kurmainzische und kaiserliche Truppen, um den Widerstandsgeist von Erfurts Bürgern zu brechen. Am Ende der Geschichte des Petersberges als Zentrum der Herrschaft über Erfurt, im Dezember 1989, waren es 2.934 hauptamtliche Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, die von dort aus über Tun und Denken der Bürger wachten.

Bis 1964 hielt die Staatssicherheit das gesamte Areal besetzt, dann mußte sie die architekturhistorisch wertvolleren Teile abtreten und sich auf das ehemalige Luftwaffenamt und das umliegende Gelände am Rande des Petersberges beschränken. Doch in dem Graben unterhalb der Zitadelle richtete die Stasi - von oben unsichtbar - ihren Schießplatz ein, und immer wieder wurden Besucher, die das Panorama genießen wollten, durch Salven aus Maschinenpistolen erschreckt. Das Luftwaffenamt reichte der expandierenden Behörde bald nicht mehr aus, so daß es 1976 durch einen scheußlichen Klotz ergänzt wurde, in dem die elektronische Überwachung ihren Platz fand. Beide Bauten stehen an der Andreasstraße, deren Name damit zu einem Synonym für Mielkes Spitzelsystem wurde.

Manche Leute in Erfurt erzählen, sie hätten weggeschaut, wenn sie mit der Straßenbahn vom Domplatz aus in nördlicher Richtung durch die Andreasstraße kamen. „Vorbeifahren“, sagt eine junge Erfurterin, „hatte immer was Unheimliches.“ Die anderen berichten, sie hätten sehr genau hingeguckt, wer dort ein- oder aussteigt - „schließlich hätte es noch einmal nützlich sein können, zu wissen, wer ein Spitzel ist“. Keinen Erfurter hat diese Straße gleichgültig gelassen.

Heute ist das anders: Daß acht Menschen dort bis vor kurzem einen Hungerstreik machten, um gegen die Restbestände des Stasi-Systems zu protestieren und die Aufklärung der Vergangenheit zu erzwingen, das interessiert nur noch wenige. Was den Erfurtern gegenwärtig Sorge bereitet, ist weniger die Vergangenheit als die Zukunft.

Zurück auf den Domplatz: Begrenzt wird er vom Petersberg, beherrscht vom Domberg mit dem Ensemble aus Marien- und St. -Severi-Kirche. Dennoch bestand hier kein Gegengewicht zur staatlichen Macht. Schon die Befestigung des Dombergs im 12.Jahrhundert durch den Mainzer Erzbischof Adalbert richtete sich gegen die Erfurter. Im 16. Jahrhundert, als die Stadt sich der Reformation anschloß, konnten die Bürger nur unter der Bedingung Frieden erlangen, daß die beiden das Stadtbild prägenden Kirchen katholisch blieben.

Auch in den letzten Jahren waren diese Kirchen kein Gegengewicht zur Staatsmacht. Anders als in früheren Jahrhunderten waren sie zwar uneins mit ihr, doch verharrten sie dabei kompromißlos in abstrakter Negation dieses „sozialistischen“ Staates. Selbst für dessen Gegner, die Bürgerrechtler, öffneten Dom und St. Severi ihre Tore nicht.

Der Domplatz ist der Ort, wo die Bürgerinnen und Bürger sich immer schon versammelten. Er wurde zum Schauplatz des Sturzes der alten Macht. Ehe es jedoch im Oktober 1989 so weit kam, war Vorarbeit notwendig. Die wurde in den evangelischen Kirchen der Stadt geleistet, in der Lorenz-, der Prediger-, der Kaufmanns- und der Wigbertikirche. Unter der Schirmherrschaft von Probst Falcke konnten sich dort in den letzten Jahren Umweltgruppen und Friedensinitiativen zusammenfinden - argwöhnisch von der Stasi beobachtet. Auch als die Opposition mit der Ausreisewelle an Zulauf gewann, waren die Kirchen der Ort, wo sich drei-, viertausend Menschen ungestört zu sogenannten Friedensgebeten versammeln konnten.

Herbst 1989 in Erfurt

Am 7. Oktober, als die Konfrontation an Schärfe gewann, versammelten sich nach einem Aufruf des Neuen Forums Tausende von Menschen in der Kaufmannskirche. Schräg gegenüber, im Hauptpostamt, waren die „Kampfgruppen“ verschanzt auf der Straße patrouillierte die Stasi. Insgesamt zwölftausend Mann sollen damals mit der Einschüchterung der Erfurter beauftragt gewesen sein.

Die berühmte Leipziger Montagsdemonstration vom 9. Oktober war dann auch für Erfurt, der mit 220.000 Einwohnern größten Stadt Thüringens, das Zeichen. Drei Tage später, am 12. Oktober, versammelten sich 40.000 Menschen auf dem Domplatz und riefen: „Stasi in die Produktion!“ und „Rosi raus aus dem Rathaus!“. Gemeint war die Oberbürgermeisterin Rosemarie Seibert. Einer ihrer Stellvertreter, zuständig für Kaderfragen, kommentierte nach der Demonstration in einer Ratssitzung das Aufbegehren der Erfurter Bürgerschaft: „Die Ratten verlassen ihre Löcher.“ Der Herr lebt heute im Westen.

Rosemarie Seibert trat nicht zurück. Schließlich sei sie, erklärte sie in der Stadtverordnetenversammlung, „demokratisch gewählt“ worden. Die Erfurter waren offenbar anderer Meinung. Am folgenden Donnerstag, dem 19. Oktober, versammelten sich 70.000 Leute auf dem Domplatz. Das reichte und die Stadt bekam einen neuen Oberbürgermeister, den bisherigen Leiter der Stadtplanungskommission, Hirschfeld, der inzwischen aus der SED-Nachfolgeorganisation PDS ausgetreten ist.

Durch die Aufdeckung immer neuer Korruptionsskandale nahm die Empörung nach dem Sturz der Oberbürgermeisterin immer weiter zu. Das Ausmaß des verzweigten Spitzelsystems wurde zunehmend deutlich. Die Demonstrationen rissen nicht ab, und am 4. Dezember wurden die Stasi-Gebäude in der Andreasstraße von Demonstranten besetzt. „Wenn wir sie (die Stasi-Leute) angesprochen haben, war die Angst weg. Aber den jungen Volkspolizisten ist der Schweiß noch heruntergelaufen, wenn sie einen Hauptmann oder Major der Staatssicherheit angeredet haben“, erinnert sich eine Teilnehmerin.

Um die Auflösung der Stasi zu befördern und um zu verhindern, daß Akten verschwinden, gründeten die BürgerInnen eine ganze Reihe von Institutionen: Ein „Bürgerkomitee“, in das alle oppositionellen Gruppen und Parteien ihre Vertreter schickten, und einen „Bürgerrat“ als kleineres Vorbereitungsgremium. Seither gab es in dem Gebäude eine ständige „Bürgerwache“, und eine „Regierungskommission“ wurde mit der Auflösung der Stasi beauftragt.

Inzwischen scheinen die meisten Bürger mit anderen Dingen beschäftigt zu sein. Die „Bürgerwache“ hat große Schwierigkeiten, Leute zu finden, die bereit sind, einen Teil ihrer freien Zeit in diesem immer noch unheimlichen Gebäudekomplex zuzubringen. Das „Bürgerkomitee“ mußte auf seiner letzten Sitzung feststellen, daß nur das Neue Forum mit den vereinbarten fünf Personen je Fraktion vertreten war. Eine Episode bei dieser Sitzung gibt Aufschluß über den Zustand des „Bürgerrats“: Ein halbe Stunde lang debattierten die Anwesenden darüber, warum kein Vertreter dieses Gremiums zur Sitzung des „Bürgerkomitees“ gekommen sei. Sie beklagten sich bitter über die „totale Verselbständigung“ dieses von ihnen geschaffenen Gremiums: „Die brauchen uns nicht mehr. Die machen eh‘ was sie wollen!“ Dann stellte sich heraus, daß der erboste Bürger irrte: Der „Bürgerrat“ tat nämlich gar nichts mehr, er war einfach entschlummert.

Wie stark sich die Gewichte verschoben haben, zeigt die Äußerung eines Mitglieds im „Bürgerkomitee“: „Die Parteivorstände müssen dafür sorgen, daß das Bürgerkomitee wieder arbeitsfähig wird.“

Der sechsköpfige „Unabhängige Untersuchungsausschuß“, in dem CDU und Demokratischer Aufbruch (DA) die Mehrheit haben, ist nach wie vor der aktivste Teil der im Dezember entstandenen Basisinitiativen. Es war dieser Erfurter Ausschuß, früher „Regierungskommission“ genannt, der kurz vor den Wahlen publik machte, daß ein nicht unbedeutender Teil der künftigen Volkskammerabgeordneten einmal im Dienst der Staatssicherheit gestanden hat. Für das Gremium gibt es auch in Zukunft viel zu tun: Viereinhalb Kilometer Akten lagern allein in der Erfurter Bezirksverwaltung der Stasi.

Die Auseinandersetzung mit der Stasi-Vergangenheit ist eine Seite der Erfurter Revolution. Doch auch in der Verwaltung der Stadt hat sich vieles geändert: An die Stelle der Stadtverordneten trat ein „Interimsparlament“, das nach dem Vorbild des Zentralen Runden Tisches in Berlin aus je fünf Vertretern der in der Stadt aktiven politischen Organisationen gebildet wurde.

Doch inzwischen entspricht seine Zusammensetzung wohl kaum mehr den politischen Mehrheitsverhältnissen in der Stadt: 50,9 Prozent der Erfurter Stadtbevölkerung haben bei den Volkskammerwahlen für die „Allianz„-Parteien gestimmt, 4,3 Prozent für die Liberalen, 21,4 Prozent für die SPD, 16,1 Prozent für die PDS, 3,2 Prozent für das Bürgerrechts -„Bündnis 90“ und 2,5 Prozent für die Listenverbindung von Grüner Partei und Unabhängigem Frauenverband. Im Interimsparlament verfügen PDS und basisorientierte Gruppen wie das Neue Forum oder die „Autonomen Brennesseln“ gemeinsam über eine knappe Mehrheit.

Das Interimsparlament versteht sich vor allem als Kontrollinstanz über Stadtrat und Verwaltung. Die alten Stadträte sind nämlich im Amt geblieben. Allerdings haben ihnen die oppositionellen Parteien einige ehrenamtliche Stadträte ohne Geschäftsbereich aus den eigenen Reihen zur Seite gesellt.

Wer regiert jetzt, nach der Revolution, die Stadt? Die schlüssigste Antwort gibt Eike Schöneich, Vorstandsmitglied der SPD in Erfurt: „Die Stadt wird regiert vom Verwaltungsapparat, gestört durch die Beschlüsse des Rates und des Interimsparlaments.“ Mitglieder des Neuen Forum sehen das aus der Perspektive des Interimsparlaments ähnlich.

Sie fühlen sich von Verwaltung und Rat nicht ausreichend informiert. Vor allem fürchten sie, daß Immobiliengeschäfte angebahnt werden, die zu einem Ausverkauf der Stadt führen. Auf Antrag des Neuen Forums wurde darum während der letzten Parlamentssitzung der Stadtbaurat Heimann gestürzt - ein eher symbolischer Akt.

Ein hoher Verwaltungskader schließlich - nie SED-Mitglied und seit Oktober an den Protestdemonstrationen beteiligt sieht die Position seines Funktionsbereichs kaum anders als die Kritiker, nur erkennt er die Grenzen der administrativen Macht deutlicher: „Wir bräuchten“, erklärt er, „unter dem Ansturm der westlichen Banken und Konzerne einen straff handelnden Apparat“, unter einer kompetenten politischen Führung, die sich nicht über den Tisch ziehen läßt. „Statt dessen“, beklagt er sich, „räsonnieren Grüppchen wie die 'Autonomen Brennesseln‘ über Basisdemokratie im allgemeinen.“

Wie geht es weiter?

In der Tat sind die Probleme drückend. Es gibt nicht einmal Flächennutzungs- oder Bebauungspläne für die Stadt. Derweil werden Fakten geschaffen: Viele der bisherigen Immobilieneigentümer wollen schnell an harte Währung kommen. An mehr oder weniger seriösen Kaufinteressenten aus dem Westen mangelt es nicht. Von den Bodenpreisen und ihrer zukünftigen Entwicklung haben die Anbieter aber keine Ahnung - sagen Fachleute.

Um wenigstens einen Ausverkauf des kommunalen Eigentums zu verhindern, hat das Interimsparlament mit den Stimmen aller Parteien - auch der konservativen - beschlossen, das ziemlich restriktive Privatisierungsgesetz der Volkskammer ab Anfang März noch weiter einzuengen: Nur Bruchbuden dürfen an die gegenwärtigen Nutzer veräußert werden. Dem zuvor erwähnten Baustadtrat wurde unter anderem zum Verhängnis, daß er Räume, die bereits einem Erfurter Kleinunternehmer zugesprochen waren, an westliche Unternehmen vermietet hatte. Das fanden alle, auch die Abgeordneten der CDU und des DA, unerhört.

In der staatlichen Verwaltung und in den Betrieben sind die besten Leute mit lukrativen Angeboten konfrontiert: ihre Standortkenntnisse sind jetzt bei anlagesuchenden Kapitaleignern sehr gefragt. Viele lassen sich abwerben.

Die kommunalen Versorgungsbetriebe - Wasser, Energieversorgung usw. - sind bestrebt, sich von „Volkseigenen Betrieben“ (VEBs) in „GmbHs“ zu verwandeln. Das könnte dazu führen, daß zum Beispiel Erfurts Wasserversorgung demnächst von den Verwertungsbedingungen privaten Kapitals bestimmt wird, wenn es der Stadt nicht gelingt, eine Aktienmehrheit zu erwerben.

Auch die Perspektiven der Erfurter Industrie sind nicht rosig. Welche Konsequenzen die Öffnung zum Weltmarkt haben wird, ist für alle Betriebe ungewiß. Nach der 1986 veröffentlichten, offiziellen Geschichte der Stadt Erfurt entwickelt sich die Stadt zu einem „Zentrum modernster zukunftsträchtiger Produktionsprozesse“. Gemeint war der VEB Mikroelektronik. Mit 8.000 Beschäftigten ist er einer der größten Betriebe der Stadt.

Die Produktionskosten der dort hergestellten Halbleiter sollen etwa zehnmal so hoch sein wie bei der westlichen Konkurrenz. Wenn die Währungsunion kommt, das Außenhandelsmonopol fällt und die Cocom-Liste nicht mehr die kapitalistische Konkurrenz fernhält, wird die Lage kritisch. Für einen Teilbetrieb, den Gerätebau mit eineinhalb tausend Beschäftigten, hat sich ein Kaufinteressent gefunden. Vertreter westlicher Konzerne haben sich die übrigen Abteilungen des VEB Mikroelektronik bereits angeschaut - und haben abgewunken: Sie haben selbst Überkapazitäten in diesem Bereich.

Bisher ist bei VEB Mikroelektronik niemand entlassen worden. Dieser Betrieb ist wahrscheinlich einer der letzten in der DDR, in dem das Arbeitsgesetzbuch der DDR noch beachtet wird, das bei Entlassungen das Angebot eines Ersatzarbeitsplatzes vorschreibt. Dennoch sind die Mitarbeiter in großer Sorge. Ein Konzept zur Rettung des Betriebes gibt es bisher nicht. Der Direktor ist immer noch der alte, doch wäre es sinnlos, ihn abzuwählen: „Dann hätten wir gar keinen Betriebsleiter mehr“, erklärt ein Ingenieur, denn den Job will keiner übernehmen.

In dem ehemaligen Renommierprojekt Mittagscher Wirtschaftspolitik gibt es einen kleinen zukunftsträchtigen Bereich. Zusammen mit einem Frankfurter Unternehmensberater haben Beschäftigte im Umfeld der Betriebsleitung ein Joint -venture gegründet: „Ermik-Tours“. „Ermik“ steht für Erfurter Mikroelektronik, „Tours“ für den Geschäftsgegenstand: Zimmervermittlung. Auf den hochkomplizierten EDV-Anlagen, die einmal dazu dienten, Schaltkreise zu entwerfen, werden jetzt im Auftrag westlicher Reisebüros Quartiersuchende und freie Zimmer hin und hergeschoben. Erfurt wird auch in Zukunft nicht nur vom Tourismus leben. Es gibt eine hochqualifizierte Facharbeiterschaft und etliche Betriebe, die in irgendeiner Form weitermachen werden.

Jetzt stehen an jeder Straßenecke Pritschenwagen mit bundesdeutschen Autonummern, von denen herab die lange ersehnten Konsumgüter verkauft werden. Solche gewinnträchtigen Geschäfte werden sich die Erfurter mit ihrer Handelstradition auf Dauer nicht entgehen lassen.

Schon jetzt kann man kann sich das Bild der nächsten Jahre vorstellen, wenn Erfurt mit dem Kapital seiner jahrhundertealten Geschichte wuchern wird. Da wird künftigen Besuchern der Domplatz gewiß nicht nur mit Hinweis auf Marien- und St.-Severi-Kirche präsentiert, sondern auch voller Stolz darauf, daß hier die Revolution stattgefunden hat. Doch auf dem Domplatz ist jetzt erst einmal Jahrmarkt.

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