: Sinkender Umsatz trotz wachsender Kaufkraft
■ DDR-Statistiker legen erstmals ungeschönte Zahlen vor: Wirtschaft beginnt sich nach Turbulenzen zu erholen / DDR-Industrie verliert schon jetzt Marktanteile / Importüberschuß gegenüber der BRD / Industrieproduktion sank im ersten Quartal 1990 um fast fünf Prozent
Berlin (taz) - Die DDR-Wirtschaft hat im März 1990 begonnen, sich von den Turbulenzen der letzten Monate zu erholen, berichtete gestern auf einer Pressekonferenz der Präsident des Statistischen Amtes der DDR, Prof. Arno Donda. Doch gibt es bereits jetzt einige Anzeichen, die der DDR-Industrie für die Zukunft nichts Gutes verheißen. Das arbeitstägliche Produktionsniveau lag im ersten Quartal 1990 in der Volkswirtschaft insgesamt um 4,8 Prozent, in der Industrie um 4,7 und im Bauwesen um 14 Prozent niedriger als im ersten Quartal 1989. Allerdings gab es im März in der Industrie eine Steigerung von 1,2 Prozent gegenüber dem Februar.
Der Produktionsrückgang war in einzelnen Industriezweigen und Betrieben unterschiedlich: Während 39 Prozent der Betriebe sogar eine Produktionssteigerung zu verzeichnen hatten, ging in 61 Prozent der Betriebe die Produktion zurück, in 27 Prozent der Fälle sogar um mehr als 10 Prozent. Hauptbetroffene waren u.a. Chemie (-8%), Fahrzeugbau (-5%) und Süßwaren (-27%). Als Ursachen für den Produktionsrückgang nennen die Statistiker die abnehmende Zahl der Arbeitskräfte, die im März um 124.000 oder 4,4 Prozent unter dem Niveau von März 1989 lag, gestörte Kooperationsbeziehungen zwischen den Unternehmen und fehlenden Absatz.
Letzteres läßt ahnen, was in Zukunft auf die DDR-Industrie zukommt, denn die Kaufkraft war vorhanden. Die DDR-Bürger hatten im ersten Quartal um 10,1 Prozent höhere Geldeinnahmen als im Vorjahr und haben dafür mehr eingekauft als je zuvor. Der Einzelhandelsumsatz stieg „zu effektiven Preisen“ um 6,5 Prozent, die Ersparnisse der Bevölkerung haben sich sogar um 500 Millionen Mark verringert. Doch der Marktanteil der DDR-Inlandsproduktion geht schon jetzt - vor der Währungsunion - zurück. Verglichen mit dem ersten Quartal 1989 z.B. bei Stoffen und Konfektion von 74 auf 57 Prozent, bei Trikotagen, Wirk- und Strickwaren von 92 auf 81 Prozent und bei Technik (ohne Fahrzeuge) von 60 auf 42 Prozent. Ein regelrechten Einbruch gab es im Februar/März bei Pkws und Unterhaltungselektronik. So war im Januar 1990 der Umsatz von Pkws noch um 5,2 Prozent gestiegen, im Februar und März ging er um 6,6 bzw. 9,3 Prozent zurück. „Elektroakustische Erzeugnisse“, wie die Unterhaltungselektronik in der DDR-Statistik genannt wird, verbuchten im Februar noch eine Umsatzsteigerung um 23,9 und im März dann einen Rückgang um 24,2 Prozent. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Anfang Februar wurde von den Bonner Wahlkampfstrategen eine schnelle Einführung der D-Mark angekündigt, und danach warteten die Käufer ab, schließlich kostet z.B. ein Farbfernseher in der DDR bisher noch das Dreifache eines bundesdeutschen Produkts.
Zum Teil schlug sich das auch in der Außenhandelsstatistik nieder, die jene DDR-Bürger natürlich nicht erfaßt, die ihr neues Fernsehgerät im Pappkarton über die Grenze tragen. Exporte und Importe sind zwar im ersten Quartal insgesamt gesehen um 7,9 bzw. 7 Prozent gesunken, doch im März gegenüber dem Vormonat Februar um jeweils 21 Prozent gestiegen. Der Außenhandel mit der BRD nahm im ganzen Quartal zu: Insgesamt um 9,3 Prozent, wobei die DDR-Exporte um 6,6 Prozent stiegen, die Importe aus der BRD aber um 13 Prozent.
Arbeitslosigkeit beginnt sich erst auszubreiten. Immerhin haben sich im März 72 Prozent mehr Personen als im Vormonat, d.h. 81.212 Menschen, auf der Suche nach einem Job bei den Ämtern für Arbeit gemeldet. Als Arbeitslose registriert waren Ende März 38.313 Bürger, die meisten in Berlin, Potsdam, Halle und Rostock.
Das Statistische Amt der DDR hat in den vergangenen Jahren
-nicht aus freien Stücken - zur Verschleierung der tatsächlichen Misere seinen Beitrag geleistet. Das soll jetzt anders werden. In enger Kooperation mit dem Statistischen Bundesamt in Wiesbaden wird seine Arbeit umgekrempelt und zur EG-Statistik kompatibel gemacht. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei die Erarbeitung eines Preisindex. Denn in allen Zahlen - die jetzt veröffentlichten eingeschlossen - sind inflationäre Prozesse enthalten, die die Unternehmen hinter „Sortimentserneuerungen“ verbergen. Um das künftig auszuschalten, wird nun daran gearbeitet, ab Mai 1990 vor Ort monatliche statistische Erhebungen zu machen, durch die die reale Preis- und Kaufkraftentwicklung der Bevölkerung erfaßt werden soll.
Ob die alte Führung ihre Wirtschaftspolitik auf Basis von statistischen Daten gemacht habe, von denen jeder wußte, daß sie in Wirklichkeit inflationär verzerrt waren, wurde gestern gefragt. Prof. Heske vom Statistischen Amt erklärte dazu, es habe geheime „flankierende Informationen“ zur veröffentlichten Statistik gegeben. Daraus ließ sich der Einfluß von „Sortimentsveränderungen“ auf den Umsatz einzelner Produkte berechnen. Doch eine Berechnung der gesamtwirtschaftlichen Inflation gab es nicht. Prof. Donda wurde mehrfach verwehrt, eine Preisstatistik aufzubauen. So machte sich die alte Führung aus Angst vor der Wahrheit selbst blind.
Walter Süß
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