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Unter Linden ?

■ Interview zum Aufruf "Für unser Land"

Weder vollständige Identifikation mit den Aussagen noch mit dem Gestus der Darstellung veranlaßte die taz-Redaktion zur Publikation des Artikels „Unter Linden„; vielmehr war die Überlegung, die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Redaktion könnten eine Entsprechung in den Leserreaktionen finden, Impuls. Die Rechnung war offenbar mit dem Wirt gemacht; als erste der vielfältigen Rückmeldungen publiziert taz heute ein Interview mit Herrn Dr. Löwe und Herrn Dr. Türpe vom Institut für Friedens- und Konfliktforschung der HUB, Mitunterzeichner des Aufrufs „Für unser Land“.

taz: Offenbar ist Ihnen der Hergang der Idee weder plausibel noch zureichend. Sie wollten an dieser Stelle zumindest Ihr Befremden über den Gestus des Artikels wie über dargestellte Sachverhalte darlegen. Sie haben einem Interview den Vorzug gegeben. Idee dieses Artikels vom 9. April war, ein Nachdenken anzuregen über eine veränderte Selbstdefinition von Literatur in einem sich verändernden Koordinatengefüge. Dadurch ist natürlich vom Spektrum der Unterzeichner dieses Aufrufes erst einmal alles Außerliterarische aus dem Blickpunkt geraten.

Wir sehen den Kontext, den Sie erläutert haben. Wenn man aber das Ausklammern nicht deutlich macht, dann entsteht ein eigenartiger Eindruck. Ich will das an drei Faktoren deutlich machen. Der erste ist der Zeitfaktor. Ich weiß nicht, ob sich der Autor Gedanken darüber gemacht hat, wie die Befindlichkeit zu der Zeit war, als der Aufruf zustande gekommen ist.

Ein Phänomen, das unseren Autor möglicherweise interessiert haben mag, daß Aussagen, die noch vor wenigen Monaten von einer sehr ausschließlichen Verbindlichkeit für die Mehrheit der Leute in diesem Land waren, offenbar in ihrem Stellenwert doch eine frappierende Relativierung erfahren haben, vielleicht lag hier die Provokation für sein Nachdenken?

Ich bin sehr für Provokation, und das war der zweite Punkt. Ich nehme an, daß der Autor weder mit Christa Wolf noch mit Stefan Heym noch mit Volker Braun, wenns ihm denn um Literatur geht, gesprochen hat. Und das Dritte, und dagegen möchte ich mich verwahren, der Lüge bezichtigt zu werden.

Können wir einmal von dieser Generalisierung wegkommen; ich möchte zurückfragen, wo Ihrerseits Passagen den Charakter von Lüge und Kriminalisierung haben?

Es fängt an mit der Überschrift „Unfreundliche Bemerkungen“. In aller Ruhe wurde daran gearbeitet in einem Kreis von Schriftstellern, Künstlern, von Wissenschaftlern und Politikern, und dann der Presse vorgestellt. Ich nehme, was meine Zurückweisung betrifft, Anstoß an der Wertung. Hier wird unterstellt. Und die zweite konkrete Geschichte bezieht sich auf: „Die Au

toren tun so, als könnten sie den Sozialismus als Pröbchen anbieten. Sozialistische Alternative taucht am Ende mal so neben der gleichberechtigtenNachbarschaft auf. Eihe kriminelle Überheblichkeit drückt sich darin aus.“ Das hat mit kriminell überhaupt nichts zu tun. Im übrigen war dies eine Position, die im Wahlkampf interessanterweise dem gesamten Politikerspektrum von Biedenkopf über Bahr bis hin zu Brandt und anderen vorgehalten wurde, daß sie bis fünf Minuten nach zwölf an die eigenständige Entwicklung der DDR geglaubt hätten.

Ich nehme an, daß es dem Autor darum geht, schon Unterschiede zu machen, hier etwa zwischen den Montagsdemonstrationen in Leipzig, die hunderttausend Leute zusammenführten, und der Demonstration des 4. November in Berlin, die schon eine Etabliertheit hatte als Störgröße, eine Demonstration, bei der von vornherein verabredet war, daß es eine Million Leute würden, eine Demonstration, die zur Pressefreiheit, zur Meinungsfreiheit, zur Freiheit sich zu organisieren aufrief - die in allen Zeitungen angekündigt war, zu der von Rundfunk und Fernsehen eingeladen wurde, die im neuen stürmischen Bund von Polizei und Künstlern gesichert wurde. Offenbar wollte er auf ein paradoxes Verhältnis hinweisen, daß Dinge, die dort eingeklagt wurden, schon lange real waren, und das ist offenbar das Problem für den Autor, was an Publizität der Sachlage wirklich entsprochen hat. Ich will dies noch mal umblenden auf das Phänomen Schriftsteller in der DDR. Es gibt einen veränderten Stellenwert von exponierten Schriftstellern in der DDR, das kann vernünftigerweise niemand in Abrede stellen. Autoren, die hier in gewisser Weise den Status von Verkündern hatten, eine feste Lesergemeinde, die auf jedes neue Buch wartete wie aufs künftige Orakel.Und daß an diesen Orakeln de facto kein Bedarf mehr ist. Das dürfte also von Interesse für den Autor sein, erste Diskussionen auszulösen, ein Nachdenken über eine veränderte Autorenselbstbestimmung innerhalb unserer literarischen Landschaft, eines veränderten Status von Kunst in einer Kulturlandschaft schlechthin. Da in dem Artikel das Personalspektrum der Auch -Unterzeichner methodisch vernachlässigt wurde: Sie würden sicher gern ein Wort sagen zu einer möglichen Umbestimmung des Nachdenkens auch in einem solchen Institut wie dem Ihren.

Als erstes muß ich sagen, dieses Institut existiert seit dem 1. April 1990. Das war vorher ein Berliner Universitätszentrum für Friedens- und Konfliktforschung.

Wie sehen Sie Ihre eigene Repräsentanz in einem veränderten politischen Bezugssystem?

Ich würde ganz gerne noch mal auf einige Bemerkungen eingehen. Das, was Sie an Absicht des Autors auch an eigener Reflexion zu gewandelten Funktionen von Literatur in der DDR gesagt haben, das ist

tatsächlich des Nachdenkens wert. Da hätte sich in der Tat als Gegenstand der Schriftstellerkongreß angeboten, der ja eine ganz traurige Veranstaltung war, der gezeigt hat, wieviele das überhaupt noch nicht gepackt haben, noch nicht verarbeitet haben. Das ist kein Vorwurf, das muß man konstatieren, und Literatur ist ja nicht Tagesjournalismus und kann die Dinge nun gleich ästhetisch auf den Begriff bringen. Ich hätte es unter solcher Absicht, um diese Art von Befindlichkeiten und Entwicklungen und Wandlungen in der Literatur deutlich zu machen, nun nicht gerade an diesem Aufruf aufgehangen, der weder ein künstlerisches Produkt ist noch Kunstansprüche angemeldet hat, sondern der von einer bestimmten politischen Moralität als Appell getragen war.

Halten Sie es nicht für denkbar, daß der Autor gerade so eine Art hämischen Begräbnisrapport, denn ein solcher wäre der Artikel dann geworden, vermieden hat, weil ihm vielmehr daran gelegen war, so einen vom publizistischen Renommee sehr gut besetzten Aufruf, also die „Schicht“, die dahintersteht, in Frage zu stellen?

Darüber sind wir schon ein bißchen froh gewesen, daß diese Reputation zustande kam, die ja auch quer durch alle politischen und geistig-kulturellen Spektren in diesem Land ging. Wenn er diesen Abgesang vermeiden wollte und sich dennoch auf den Aufruf bezieht, dann muß man dies aber deutlich machen, daß man den Künstler nicht als Produzenten von Literatur, von Bildern oder ähnlichem nimmt, oder den Wissenschaftler als Produzenten von Theorien, sondern ihn nimmt als politisches Subjekt. Stefan Heym oder Superintendent Krusche haben eben ganz unterschiedliche Funktionen in der Gesellschaft.

Das sind natürlich sehr schöne Beispiele, und ich nehme an, daß es auch dem Autor gerade darum geht, eine bestimmte Vorstellung von personeller Oberhoheit, die bestimmte Sachgebiete verwaltet, in Frage zu stellen, er hat sich auf die erste Reihe der Autoren bezogen. Prinzip ist wohl, Personen in ihrem Stellenwert so zu relativieren, wie das vernünftig scheint. Es geht zuletzt darum, sich zum Beispiel an der Entintellektualisierung von Politik zu beteiligen, schon gar nicht des Nimbus renommierter Autoren. Aber die Relativierung bzw. die Rückführung auf ein vernünftiges gesellschaftliches Maß einer Repräsentanz dieser Aussagen könnte doch ein Impuls gewesen sein auch für die Überziehung.

Das ist sicherlich die Absicht. Es ist legitim, es fragt sich, ob die Mittel, diese Absicht zu verdeutlichen, hier die geeigneten waren. Was sich natürlich auch unser gerade gegründetes Institut überlegen muß, in der Tat, der Gegenstand von Friedens- und Konfliktforschung ist ein stark veränderter. Unsere Kollegen aus der Bundesrepublik und vielen anderen Ländern stehen vor derselben Problematik, daß ihnen

ihr über Jahre gehegter Gegenstand plötzlich abhanden gekommen ist, das ist noch keinem Biologen passiert, noch keinem Chemiker. Den Friedensforschern ist es sozusagen passiert, ihr Gegenstand, der traditionelle Ost-West -Konflikt mit den Phasen Entspannung und kalter Krieg ist plötzlich in der alten bekannten Art und Weise weg. Hier in Deutschland sich einzubringen als europäische Deutsche, um das große Ganze in den Griff zu bekommen und nicht mehr diese Deutschtümelei auch in der Friedensforschung zu verfolgen, das wäre ein Aspekt.

Wir brauchen uns nur in diesem Lande umzusehen, man braucht sich nur in einem zukünftigen Deutschland umzusehen, in einem Europa und in der Welt, also, wer mir da sagt, dort sind die Beziehungen friedlich, der täuscht sich nun wirklich.

Können wir noch einmal den Zusammenhang herstellen zwischen Literatur als zutiefst humanem Phänomen und der Publikation von Ideen, die der Befriedung der Welt im weitesten Sinne dienen sollen. Es ist doch so - Sie haben auf das spezifisch Deutsche auch solcher Unternehmungen hingewiesen -, daß ein inzwischen vergessener philosophischer Schriftsteller geschrieben hat, daß die Deutschen ihre Revolutionen immer nur im Kopf gemacht hätten. Davon hat sehr wesentlich die Literatur gelebt. Und nun haben die Deutschen also eine Revolution nicht im Kopf veranstaltet, sondern an einem ganz anderen Ort; das hat ganz ohne Frage das Verhältnis zum gedruckten Wort verändert. Halten Sie eine Veränderung des Verhältnisses auch für Ihren Gegenstand und der Publizität dieses Gegenstandes für vergleichbar? Würden Sie darin eine veränderte Relation sehen? Es ist ja klar, daß das geschriebene Wort unter bestimmten Umständen fast den Wert einer Droge hat, von diesem ist nicht mehr auszugehen, und das unterscheidet sich in den verschiedenen publizistischen Bereichen dann nur graduell.

Ich glaube, daß im Moment drei Felder intellektueller Arbeit uns zur Nachdenklichkeit bringen. Die erste Ebene ist ganz einfach die des Tages und der Verunsicherung hier im Lande, und lediglich der Import einer bestimmten politischen Kultur wird uns da auch nicht weiterhelfen. Die zweite Ebene ist die, daß natürlich Literatur den Vorteil hat, die Dinge ästhetisch auf den Begriff zu bringen oder einen ästhetischen Erkenntnisprozeß zu durchschreiten, den sie dann mit Figuren etc. plastisch machen kann, da kann sie sich Zeit nehmen, und das Buch kann dann warten. Die dritte Ebene: Die Zeit wird uns aber nicht gegeben durch die Unmittelbarkeit der zu lösenden Probleme. Zur Rolle der Schriftsteller, um es vielleicht ein bißchen überspitzt zu sagen: Literatur greift sicherlich immer ein, stellt sich auch immer der offenen Auseinandersetzung. Vor der Wende war zumindest Literatur in der DDR vor allem deshalb interessant, weil sie Dinge sagte, die nirgendwo gesagt werden konnten. Es war damit noch lange nicht Literatur. Aber jeder konnte sich dadurch sehr einfach als Literat ausgeben. Jetzt wird sich zeigen, welchen Wert hier die Literatur hat. Was übrig bleiben wird und vor allem, wer uns also wirklich noch etwas literarisch zu sagen hat, muß sich zeigen.

Was würden Sie denn erwarten, was stellen Sie sich vor, was Literatur zu sagen haben könnte? Was sind Ihre ganz privaten Erwartungen? Ihre Urteile sind ja sehr streng.

Meine private Erwartung ist, daß sie wirklich wieder schöngeistig wird, daß man Lust dabei empfindet, etwas zu lesen, daß man sich nicht ständig aufgeklärt fühlen muß, aufgeklärt im Sinne, in dem einem etwas diktiert wird, etwas literarisch schlecht, politisch suggeriert wird.

Ich würde gerne noch mal ein Denkangebot von Dr. Löwe versuchen umzukehren. Sie haben gesagt, die Literatur hat es gut, die hat viel Zeit, entwirft Utopien, Metaphern und so weiter. Ganz anders die Wissenschaft. Ist es nicht eher umgekehrt, daß die Wissenschaft, die ja empirisch arbeitet, jetzt doch sozusagen im Dokumentieren von Vorgängen, für die sie in deren Vorfeld sehr vehement gestritten hat, häufig genau in der Weise beschreiben kann, die sie immer erhofft hat - ohne davon abzusehen, wieviel da den Bach runterrutscht - im Umkehrzug dazu die Literatur natürlich vor einem ungleich größeren Dilemma steht. Sie hat ja ausschließlich etwas mit kultureller Identität zu tun hat, mit dem Nachdenken über den Ort der eigenen Herkunft. Literatur, Kunst im weiteren Sinne beobachtet, wie ein ganzes Volk aus seiner Geschichte flüchtet, aus seiner Identität herausstürzt. Was soll eigentlich Literatur noch schreiben, ist nicht alle Zeit schon hinter ihr, und ich nehme an, daß das doch ein Impuls dieses im Gestus ganz zweifellos anfechtbaren Essays war, solcherart Perspektiven poetischen Arbeitens zu problematisieren.

In dieser Beurteilung herrscht natürlicherweise eher Konsens zwischen uns. Es gibt Vorzüge der Literatur und es gibt im Moment Konzeptionslosigkeit, die offenbar nichts anderes ist als die Widerspiegelung der eigenen Orientierungslosigkeit. Und hier setzt meines Erachtens Wissenschaft ein. Hier muß der Wissenschaftler Konzepte entwerfen, und da sehe ich eine Parallelität zwischen Kunst und Wissenschaft. Der eine, der doch stärker über eine künstlerische Aneignung der Welt geht, und der andere, mehr über eine begrifflich-abstrakte Aneignung der Welt, aber am Ende müssen sie sich treffen, daß diese Welt eine humane gewaltfreie Welt ist, in der gleichberechtigte Perspektiven für alle existieren.

Vielleicht ist das der Schlüssel für beide Sparten, daß ihr Identitätsbegriff über Nacht wie von außen gekippt wurde, und darüber müßte eine Neuverständigung einsetzen. Die

Schriftsteller der DDR haben spätestens seit den 60er Jahren mit dem, was man „Ankunftsliteratur“ nennt, eine hermetische DDR-Identität modelliert. Natürlich war dies auch eine Art um zehn Jahre verspäteter Heimatliteratur in der DDR, welche ihrerseits hierzulande den verlorengegangenen Westgebieten nach dem Mauerbau hinterhertrauerte.

Zu dem, was Sie zur Ohnmacht dieser Literatur sagten: Ist das Ohnmächtige der Literatur nicht viel eher ein Reflex auf deren Gestus, etwa auf dieses jahrzehntelange vornehme Absehen von mehrheitlichen Mentalitäten? DDR-Literatur hat gegen diese immer die Ausschließlichkeit des Utopischen gesetzt und eine Identität ausschließlich negativ zum Gegenüber formuliert. Das gilt natürlich in noch viel stärkerem Maße für die „Geisteswissenschaften“, und da zu dem zurückzufinden, was die Romantiker den Zusammenklang eines Nachdenkens nannten, scheint mir das vielleicht wichtigste beiderseitige Anliegen.

Ich geh nicht ganz damit konform. Ich meine, eine große Schwierigkeit besteht für die Wissenschaft darin, daß sie dann etwas auf den Begriff bringen kann, wenn die Sache zu einer relativen Reife kommt. Andererseits ist es so, daß Wissenschaft das Ganze dieser Welt reflektiert und dazu natürlich auch die Ruhe braucht des Nachdenkens, sonst kommt sie zu keiner Geistigkeit.

Ich würde vorschlagen, daß vor neuen Verallgemeinerungen die Nichteinlösungen der jeweils eigenen Sparte auch jeweils die eigene Zunft erst einmal für sich bestimmen muß. Sowohl die Literatur als auch die Geisteswissenschaften haben über ein partiell falsches Selbstbild nachzudenken, nur so mithin auch über ihr Verhältnis zueinander.

Das wird immer die Frage von Literatur und Geisteswissenschaft sein. Das ist nicht das Spezifikum unserer Situation ...

... die Dimension des Dilemmas ist schon ein Spezifikum unserer Situation, für die möglicherweise auch die Schwierigkeit, innerhalb eines solchen Gesprächs einen gemeinsamen Kanal zu finden, stehen mag, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Das Interview führte Tilo Köhle

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