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„Sich zum Sarg bekennen, heißt Tabus durchbrechen“ - türkische Kurden stehen mit dem Rücken zur Wand

Kurz vor seiner Amtsenthebung hat sich Müslim Yildirim, Bürgermeister der kurdischen Stadt Nusaybin, zur Intifada bekannt / Die taz sprach mit dem Stadtoberhaupt über die aufgestaute Wut der Demonstranten und über das Kesseltreiben des türkischen Militärs bei den jüngsten Kurdenaufständen  ■ I N T E R V I E W

Der Bürgermeister der kurdischen Stadt Nusaybin, Müslim Yildirim, ist vom türkischen Innenministerium seines Amts enthoben worden. Aufgrund eines Interviews mit der Nachrichtenagentur 'Reuter‘ hatte kurz zuvor das Staatssicherheitsgericht gegen den Bürgermeister ein Ermittlungsverfahren wegen „separatistischer Propaganda“ und „Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“ eingeleitet. Nusaybin war in den vergangenen Wochen eines der regionalen Zentren der kurdischen Intifada.

Nachdem Militärs während der Beerdigung eines erschossenen Mitgliedes der Kommunistischen Partei Kurdistans (PKK) in die Trauergemeinde geschossen und den zwanzigjährigen Semsettin Ciftci getötet hatten, kam es zu einem regelrechten Volksaufstand in der Kreisstadt.

Bürgermeister Yildirim verteidigte den kurdischen Widerstand. Unmittelbar vor seiner Amtsenthebung gab Yildirim der taz ein Interview - das letzte Interview des Bürgermeisters.

taz: Die Folge der Beerdigung eines Kämpfers der Kommunistischen Partei Kurdistans: Tausende von Kurden demonstrieren und liefern sich Straßenschlachten mit dem Militär; Kinder werfen mit Steinen auf Soldaten; Uniformierte schießen auf Zivilisten in den Gassen. Was hat sich in Nusaybin geändert?

Yildirim: Sie fragen wohl, ob ich mich zur Beerdigung bekenne. Wenn Tausende Bürger zu dieser Beerdigung hingehen, dann kann man nur den Schluß ziehen, daß sich das Volk dazu bekennt. Die Unterdrückung hat bei allen die Wut angestaut. Nur ein kleiner Funke genügt heute zur Explosion. Früher hatten die Menschen Angst, sich zu einem Sarg zu bekennen.

Vor wenigen Jahren wurde ein ehemaliger Schüler von mir, Ramazan Karatay, begraben. Er hatte eine wichtige Stellung in der PKK inne und war vom Militär erschossen worden. Er wurde sang- und klanglos begraben. Heute ist die Situation ganz anders. Sich zu einem Sarg bekennen, heißt Tabus durchbrechen.

Wo waren Sie während der Straßenschlachten?

Hier in der Stadtverwaltung. Journalisten und Abgeordnete hatten hier Schutz gesucht. Alles lief vor unseren Augen ab. An den Haaren wurden Menschen bis zur Polizeiwache geschleppt. Unsere städtischen Linienbusse wurden beschlagnahmt, um die Festgenommenen abzutransportieren. Die Stadtverwaltung wurde behandelt wie ein Nest der PKK.

Was bedeutet die Verschärfung des Ausnahmezustandes, die die Regierung verfügt hat?

Yildirim: Der schwerste Schlag ist die Pressezensur. Früher wurde über Massenfestnahmen und Morde berichtet. Nun ist die Presse zum Schweigen gebracht. Die Region soll von der Öffentlichkeit abgekapselt werden. Die Menschen hier fürchten, daß demnächst das Militär ein Massaker anrichten wird.

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