Die Psychologie des 1:1

Der politische Wille der DDR-Bevölkerung setzt sich gegen die Wirtschaftsexperten durch  ■ K O M M E N T A R

Den gesamten wirtschaftspolitischen Sachverstand hatte die Bundesrepublik aufgeboten, alle Experten waren sich einig: Eine Währungsunion, nach der die Löhne 1:1 umgestellt werden, führt zum Ruin vieler Betriebe der DDR. Denn was soll aus Exporten werden, wenn die Lohnkosten nicht mehr durch den Wechselkurs „billig“ gehalten werden? Wie sollen die Produkte der VEBs auf dem DDR-Markt konkurrieren gegen West-Waren, wenn die Preise sich aufgrund vergleichbarer Lohnkosten angleichen?

Aber die Bundesregierung, darauf deuten alle Anzeichen hin, beginnt sich dem Druck aus der Hauptstadt der DDR zu beugen und die Experten-Papiere in den Papierkorb zu werfen. „Eins zu eins“ ist ein Problem der Selbstachtung der DDR -Bevölkerung. Zwischen Mecklenburg und Sachsen ist CDU und SPD gewählt worden, weil man es genauso haben wollte wie in der Bundesrepublik, weil man richtig anerkannt sein wollte.

Das Experten-Argument, die Werktätigen und ihr Gewerkschaftsbund könnten doch am Tage nach der Währungsunion den Lohnkamf beginnen und sofort neue, höhere Löhne frei aushandeln, hat in der DDR niemand hören wollen. Denn auf den Härtetest, wie hoch die Wirtschaftskraft ihres jeweiligen Betriebes ist, sind die Werktätigen nicht gespannt. Jetzt schon sind in den HO-Kaufhallen zwischen den preiswerten Grundnahrungsmitteln die gut verpackten West -Waren in den Regalen. Da gibt es zwei Schlangen an der Wurst-Theke, eine kurze teure und eine lange billige, da stehen Champignons und Mandarinen-Dosen zu 5,95 Mark und Fruchtsäfte ab 5 Mark aufwärts. Die Preise für die heimischen DDR-Produkte purzeln - umsonst.

Wie der Kampf um die Produktivität aussehen könnte, das weiß derzeit niemand. Je näher der Tage X der Währungsunion kommt, desto mehr Angst macht die Vorstellung des Unvorstellbaren. Kaum ein Produktionskollektiv hat seine eigene Zukunft selbst in die Hand genommen und sich getraut, die alten Betriebsleiter in die Wüste zu jagen. Deswegen verbreitet die Vorstellung vom Lohnkampf nur Ängste.

Das wichtigste politische Instrument der DDR-Bevölkerung ist derzeit die Drohung: „Wenn ihr uns nicht helft, kommen wir“. Es ist ein Vorteil der Wahl-Demokratie, daß solche Drohungen, wenn sie massenhaft empfunden werden, ihre Wirkung auf die wählerstimmen-süchtigen Politiker nicht verfehlen. Aber es ist der letzte Trumpf, den die Bevölkerung der DDR hat.

Klaus Wolschner