: Mit der Einheit gegen die Skandale
Die niedersächsische Regierung setzt in ihrem Landtagswahlkampf ganz auf die Wiedervereinigung / Siegesgewißheit bei den Christdemokraten ist gesunken / Albrecht verschweigt, daß er nach den Wahlen massiv den dicken Rotstift ansetzen will ■ Von Jürgen Voges
Hannover (taz) - Ein Ernst Albrecht - durch Retusche um zehn Jahre verjüngt - präsentiert sich lächelnd in einem gutbürgerlichen Wohnzimmer, der ebenso freundliche Kopf von Gerhard Schröder mißt auf den SPD-Großplakaten von Kinn bis Scheitel ungefähr zweieinhalb Meter. Der motorisierte Niedersachse fährt jetzt allerorten gezwungenermaßen am Wahlkampf vorbei. Die CDU versucht an den Erfolg bei den DDR -Wahlen anzuschließen und mit dem Deutsch-deutschen die Vergangenheit der Regierung Albrecht vergessen zu machen.
Am heutigen Samstag steigt das „zeitlich und technisch aufwendigste“ Wahlkampfspektakel der niedersächsischen Christdemokraten. In acht grenznahen Städten zwischen Lüchow und Göttingen feiert sie gleichzeitig ein „Deutschlandfest“, mit Bier, Bratwurst und Blasmusik und „Freunden aus den jeweiligen Nachbarkreisen in der DDR“.
„Zahlreiche Gäste aus der DDR“
Schon mit ihrem offiziellen Wahlkampfauftakt war die niedersächsische CDU mit Blick auf die Massen, die Helmut Kohl im DDR-Wahlkampf hatte anziehen können, in das nur fünfzehn Kilometer von der DDR-Grenze entfernte Wolfsburg gegangen. Doch statt der erwarteten 15.000 zählte die Polizei am vergangenen Wochenende nur 4.000 Zuhörer für den Bundeskanzler, für Ernst Albrecht und Rita Süssmuth, natürlich die zahlreichen „Gäste aus der DDR“ und einen stattlichen Block lautstarker jugendlicher Kohl-Gegner eingerechnet.
Der große Festplatz am Allersee hätte ohne die sechzig Traktoren noch leerer ausgesehen, mit denen gegen die EG -Agrarpolitik protestierende Bauern zum Kanzler-Auftritt gekommen waren.
Die niedersächsische CDU hat mit ganzen zwölf weiträumig bedruckten DINA-5-Seiten das kürzeste Wahlprogramm aller Landtagsparteien. Alle prominenten Landespolitiker der Union reden ausladend über die deutsche Einheit und kaum über Niedersachsen. In Wolfsburg hatte Ernst Albrecht die CDU vor allem als „Partei der deutschen Einheit und der sozialen Marktwirtschaft gelobt“, aber immerhin zu vier, die Bundesbürger betreffenden Fragen, von Helmut Kohl klare Worte verlangt.
Doch der war gedanklich nicht in Niedersachsen, den von Albrecht erwähnten Bauern wollte er „hier nichts Großes versprechen“. Und auch auf die übrigen Fragen Ernst Albrechts ging er nicht ein. Statt dessen sagte er für die DDR Rentenerhöhungen zu und wollte zwischen Mecklenburg und Thüringen „ein blühendes Land bauen. Selbst Ernst Abrecht blickte gegen Schluß der einstündigen Kanzlerrede, die zahlreiche Zuhörer nur zum vorzeitigen Abwandern bewegte, nur noch starr mit säuerliche Miene zu Boden.
Die niedersächsische SPD setzt inzwischen auf die deutsch -deutsche Ernüchterung der Bundesbürger. Der SPD -Spitzenkandidat warf seinem Kontrahenten Albrecht am Mittwoch vor, „aus Wahlkampfgründen seine Pflicht zur Verteidigung der Finanzinteressen Niedersachsens zu vernachlässigen“.
Ernst Albrecht hatte in der Tat am Tag zuvor schlicht geleugnet, daß der Bund auf der letzten Finanzministerkonferenz von den Ländern verlangt hat, sich zu einem Drittel an der Abdeckung des Defizits des DDR -Staatshaushalts zu beteiligen, das laut Bundesfinanzminister Theo Waigel bis 1991 bis zu 100 Milliarden D-Mark betragen soll. Den abwägigen Vorschlag Albrechts, diese für Niedersachsen zehn bis fünfzehn Prozent des Landeshaushalts ausmachenden Kosten der Vereinigung, doch über einen Fonds, der Kredite aufnehmen kann, also über Staatsverschuldung zu finanzieren, nannte Schröder einen schlichten Wählerbetrug.
Tatsächlich hat Ernst Albrecht schon angekündigt, daß im Falle einer Wiederwahl nicht nur das „neue Kabinett bis Ende Juni stehen soll“, sondern daß dann auch die „wichtigsten Haushaltsentscheidungen gefallen sein sollen“. Wie Albrechts Haushaltsentscheidungen nach der letzten Landtagswahl im Jahre 1986 aussahen, kann man in dem meterlangen „Denkzettel“ gegen Skandale und Wählerbetrug nachlesen, in dem SPD jetzt 75 Affären, Lügen, Rechtsbrüche und leere Versprechungen aus 14 Jahren Albrecht-Regierung aufgelistet hat.
Dem rigiden Sparkurs, den Ernst Albrecht gleich nach der Wahl dem Landeshaushalt verordnete und der zu Massenprotesten von Studenten und auch Gewerkschaftern führt, vielen damals selbst die CDU-Wahlkampfschlager wie das Babygeld in Höhe von tausend D-Mark für jedes Neugeborene oder die niedersächsische Ausgabe des Schüler -BAFöGs zum Opfer.
Den niedersächsischen CDU-Größen ist die Siegesgewißheit, die sie noch nach dem Mannöver mit Rita Süssmuth ausstrahlten, wieder abhanden gekommen. Der Chef der CDU -Landtagsfraktion Jürgen Gansäuer stellte in dieser Woche eine Emnid-Umfrage vor, die zwar programmgemäß erstmals einen knappen Vorsprung der regierenden CDU/FDP-Koalition vorhersagt. Doch nach dieser April-Umfrage müßten bei 43,5 Prozent für die CDU, 42,5 Prozent für die SPD und jeweils 6,5 Prozent für Grüne und FDP 99 Prozent aller niedersächsischen Wähler, den vier im Landtag vertretenen Parteien ihre Stimme geben.
In bundesweiten Umfragen, wie etwa dem ZDF-Politbarometer, liegen die sonstigen Parteien einschließlich der „Republikaner“ dagegen gegenwärtig bei drei Prozent. Bei der Niedersachsenwahl am 13. Mai treten mit insgesamt 21 Landeslisten, weitaus mehr kleine und kleinste Gruppierungen als bei den vergangenen Wahlen an. Sieht man von der Liste 8, den „Demokratischen Sozialisten“ ab, so zielen all diese Gruppierungen von den „Republikanern“ in allen ihren niedersächsischen Varianten über „Die Unabhängigen“ bis hin zur „Partei bibeltreuer Christen“ auf das Wählerpontential der CDU. Die DKP tritt natürlich nicht mehr an.
Selbst Jürgen Gansäuer stellt das tatsächliche Abschneiden kleiner Parteien rechts von der CDU „die entscheidende Frage“ dar. Rita Süssmuth, die Wilfried Hasselmann als „einen Torpedo mitschiffs für die SPD“ zu bezeichnen pflegt, hat bisher Ernst Albrecht nicht retten können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen