: Lob der Langsamkeit gegen das Diktat der Zeit
Der Grünen-Kongreß „Zeit und Nähe“ versucht sich an der Verkehrsproblematik und entwirft ein „Notprogramm der Entschleunigung“ ■ Aus Bonn Gerd Nowakowski
Der Krieg begann vor 150 Jahren in England und fordert heute auf der ganzen Welt seine Opfer. Jahrzehnte dauerte es im Geburtsland des Kapitalismus, den Menschen die Herrschaft der Zeit aufzuzwingen, den Schlachtruf „Zeit ist Geld“ auch denen einzubleuen, die weder das eine noch das andere jemals besaßen.
Eine beispiellose Beschleunigung der Zeit hat seitdem die Menschen zu Anhängseln der großen Maschine gemacht und die Tage grenzenlos werden lassen. Am sichtbarsten fordert der Krieg seinen Zoll auf den Straßen, wo die Opfer des Zeitgeists nach Hundertausenden zählen. „Zeit und Nähe in der Industriegesellschaft“, hatten die Grünen einen zweitägigen Kongreß am vergangenen Wochenende überschrieben, auf dem man sich dem Beschleunigungsphänomen aus verkehrspolitischer Sicht nähern wollte. In der Mobilität, dem Kampfbanner der Neuzeit, mit ihrem Drang nach Zeitüberwindung durch Zerstörung des Raums, fokussieren sich freilich nur Prozesse, die alle Bereiche des Lebens und Denkens durchdrungen haben. Alle Lebensäußerungen haben wir der Zeit unterworfen, selbst ein Treffen in der Freizeit wird heute zum „Termin“. Die Zeit ist männlich, und es sind vor allem die Frauen, die in Zeitkollisionen kommen, führte die Zivilisationsforscherin Ursula Pasero aus. Die Familien sind die Hauptopfer der Kolonisierung des Lebens unter die Zeit-Logik des Kapitals. Gegen die vollständige Zertrümmerung von Alltags- und Feiertagszeitund gegen den 16 -Stunden-Tag formierte sich einst der Notwehrkampf der Arbeiterbewegung; doch trotz Arbeitszeitverkürzung sind wir auf dem Wege in eine „Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft“, wie es der Theologe Jürgen Rinderspacher kennzeichnete. Es ist nicht nur die Prozeßlogik moderner Industrieanlagen, die Wochenendarbeit erzwingt; es gehört dazu auch ein Freizeitaktionismus und die Entgrenzung der Ladenschlußzeiten. In diesem Prozeß deutet sich eine biologische Antiquiertheit des menschlichen Biorhythmus an: Das Recht auf Müdigkeit als letzte Verteidigungslinie?
Der dänische Zeitforscher Bernhelm Booss-Bavnbek wertet das herrschende Zeitdiktat als Symbol der Katastrophengesellschaft. Eine exzeßhafte Anwendung eines absurden mechanistischen Zeitbegriffs führt die Zivilisation in den Wahn von Zeitoptimalität. Im industriell -wissenschaftlichen Bereich sind hochgefährliche Prozesse nur noch durch permanente Systemhöchstleistungen beherrschbar: Chemieanlagen werden zunehmend in unstabilen kritischen Bereichen mit einer extrem verkürzten Eingriffszeit „gefahren“ - Warnzeiten gibt es nicht mehr. Neue Technologien werden in immer größerem Tempo im globalen Maßstab eingeführt - mit unüberschaubaren Spätfolgen. Hinzu tritt die Kalkulation mit fiktiven Zeiten als „besondere Form der Krisenbereitschaft“, führte Booss-Bavnbek aus. Nicht nur bei Stabilitätsberechnungen von Salzstöcken für die Atommüll-Lagerung werde mit Hundertausenden von Jahren gerechnet, ohne daß es Grundlagen für derlei Berechnungen gebe - nur die Probleme werden „entsorgt“. Von den Referenten und den rund 200 Teilnehmern der Bonner Veranstaltung wurde nicht verkannt, daß die ökonomischen Mechanismen der Wachstumsgesellschaft in uns selber eine tiefverwurzelte Vergötzung der Zeitsymbolik - Zeit ist Geld, Image, Ansehen, Erfolg - hervorgebracht haben. Die Jagd nach immer mehr Aktivitäten pro Zeiteinheit wird zum Lebensinhalt. Je mehr Zeit wir haben, um so mehr sind wir gezwungen zum Zeitsparen; je rationeller wir arbeiten, um so wertvoller wird die Zeit, bis wir sie uns nicht mehr leisten können, formulierte es Rinderspacher.
Im Auto manifestiert sich das Versprechen nach mehr Mobilität und mehr Zeit, dem auch etwas Demokratisches anhaftet, weil es in der Geschichte immer das Privileg der Wohlhabenden war. Doch gerade im Verkehr sind die Ergebnisse paradox; trotz ewig stärkerer Motoren, immer besserer Straßen blieben die Wegezeiten das letzte Jahrhundert hindurch nahezu gleich. Die durch Arbeitzeitverkürzung gewonnene Zeit verschwenden wir gerade durch eine wachsende Mobilität, weil die von uns zurückgelegten Wege immer länger werden - oder wir im Stau stehen. Städtebaulich und verkehrspolitisch ist es absurd, den Tante-Emma-Laden an der Ecke gegen das Einkaufszentrum vor der Stadt einzutauschen, das zum Autofahren zwingt. Auto und Hochleistungszüge tragen dazu bei, die Lebensbiographien zwischen Familie, Freizeit und Arbeitsplatz örtlich immer mehr auszuweiten. Eine Lösung aus dem Verkehrschaos gibt es für den Augsburger Forscher Walter Molt nicht; jede bessere Verkehrsanbindung, jede Beschleunigungsmaßnahme schafft durch ihre Existenz neue Verkehrsströme. Wie kann ein „Genug“ demokratieverträglich organisiert werden? Notgedrungen konnten es nur Annäherungen an Lösungen sein, was im Plenum und in neun Foren diskutiert wurde. Daß eine Entschleunigung unseres Lebens notwendig ist, war unbestritten, doch in einer romantischen Kehrtwende in die Vergangenheit oder Askese mochte kaum jemand den Ausweg sehen. Einig waren sich auch alle, daß in der Ausweitung von Wochenendarbeit und Nachtschichten trotz durchaus vorhandener individueller Bedürfnisbefriedigung und dem Effekt einer „Entzerrung“ von Überlastzeiten auf Straßen und Freizeiteinrichtungen kein Heil zu finden ist. Tempo 30 in der Stadt, der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs oder die Erhöhung der Benzinpreise sind nur flankierende Maßnahmen, nicht aber der Ausstieg aus dem Zeitsystem selbst: auch die Alternative Schnellbahn statt Flugzeug ist Quatsch, solange man die gleiche Schnelligkeit erreichen will. Verkehr muß abgeschafft werden, ist für Dirk Oblong, der den Kongreß organisierte, eine unumgängliche Wahrheit zumal Bahn und Bus überhaupt nicht in der Lage wären, die umsteigewilligen Massen zu bewältigen. Verkehr einsparen aber kann nur durch eine umgesteuerte Raumordnung geschehen, die auf „Nähe“ gründet und die gesamtgesellschaftliche Kosten der Fahrt zum Supermarkt auf der grünen Wiese, der Fabrik im Nachbarort und der weit entfernten Schule berücksichtigt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen