: Der deutsche 1. Mai
Der 1. Mai ist der einzige weltweite Feiertag. Kein anderer Tag, nicht Weihnachten, nicht Ostern und nicht das Neujahrsfest wird über alle konfessionellen, weltanschaulichen und geographischen Grenzen hinweg begangen wie dieser Tag, der sich - seinem ideellen Gehalt nach - mit den Befreiungssehnsüchten der Menschen verbindet, aber gleichzeitig auch - in seiner pervertierten Form - mit der Erfahrung von Parteidiktatur, erzwungenen Massenaufmärschen und Massenmanipulation. Noch vor einem Jahr ließ Erich Honecker die Gewerkschaften, die SED-Kampfgruppen, die FDJ an sich und seiner Nomenklatur vorbeimarschieren, während der DGB-West-Berlin auf der Wiese vor dem Reichstag hauptsächlich Bratwurstduft verbreitete. Vielleicht waren das die letzten Ausläufer jenes weltweiten Schismas der Arbeiterbewegung, das durch den politischen und ideologischen Bankrott seines kommunistischen Pols zusammengebrochen ist.
1. Mai 1890: In vielen Ländern Europas und Amerikas demonstrierten Arbeiter für Acht-Stunden-Tag, gleichen Lohn für gleiche Arbeit, Verbot der Kinderarbeit. In Hamburg legten die Arbeiter trotz einer Warnung durch die sozialdemokratische Reichstagsfraktion die Arbeit nieder. Die Unternehmer antworteten mit wochenlanger Aussperrung. 23.8.1891: Auf dem Kongreß der Zweiten Internationale in Brüssel wurde noch einmal bekräftigt: „Der 1. Mai ist ein gemeinsamer Festtag der Arbeiter aller Länder, an dem die Arbeiter die Gemeinsamkeit ihrer Forderungen und ihre Solidarität bekunden.“
1. Mai 1914: Zwar wurde auf eindrucksvollen Kundgebungen zur Erhaltung des Friedens aufgerufen, aber in Wirklichkeit hatte die nationalistische Kriegseuphorie auch die Arbeiterbewegung erfaßt. Wenig später stimmten die Gewerkschaftsvorstände und die sozialdemokratische Reichstagsfraktion den Kriegskrediten zu.
1. Mai 1919: Im November 1918 waren die Republik, das Frauenwahlrecht und der Acht-Stunden-Tag erkämpft worden. Aber der erste Maifeiertag nach dem Ende des Weltkrieges wurde keine Siegesfeier der Arbeiterbewegung. Während im übrigen Deutschland gefeiert wurde, schoß die Reichswehr in München die Räterepublik zusammen - mehr als tausend Tote blieben zurück.
1. Mai 1929: Das seit rund 10 Jahren bestehende Schisma zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten gipfelte im Schießbefehl des Berliner SPD-Polizeipräsidenten Zörgiebel auf kommunistisch organisierte Arbeiterdemonstrationen. Die Bilanz der Straßenkämpfe: 33 Tote und ein tiefer Haß zwischen den Fraktionen der Arbeiterbewegung, auch der einfachen Mitglieder. An ein gemeinsames Vorgehen zur Verteidigung der Republik gegen den Faschismus war nicht mehr zu denken. 10.4.1933: Die Nazis ließen im Parlament beschließen, wofür die Arbeiterbewegung jahrzehntelang gekämpft hatte: Der 1. Mai wurde zum bezahlten Feiertag, allerdings auf großdeutsch: „Feiertag der nationalen Arbeit“.
1. Mai 1933: Die sozialdemokratischen Gewerkschaftsführer wollten ihren Apparat retten. Widerstandslos überließen sie den Tag der nationalsozialistischen Propaganda-Maschinerie, die einen gewaltigen Massenaufmarsch auf dem Tempelhofer Feld organisierten. 2. Mai 1933: Das Stillhalten wurde nicht belohnt. Einen Tag nach der Großkundgebung wurden die Gewerkschaftshäuser von der SA gestürmt, viele Funktionäre verhaftet, einige ermordet. Der gewerkschaftliche Apparat und das Vermögen wurden von den Nazis übernommen.
1. Mai 1946: Erstmals nach dem Krieg wurde wieder demonstriert. In Berlin marschierten 500.000 Menschen durch die Trümmer. Aufgerufen hatte der unter Einfluß der Kommunisten stehende neugegründete Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB).
1. Mai 1946: In Berlin hatte sich eine sozialdemokratische Opposition gegen den FDGB gebildet. Es gab zwei Kundgebungen. Das war der Beginn des gespaltenen deutsch -deutschen Mai. MAI-FEIER 1897
Reproduktion: Paul Glaser
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