: Nicht mehr gestern, noch nicht morgen
Der 1. Mai in der Hauptstadt der DDR ■ K O M M E N T A R
Wie schön hätte alles sein können! Hundert Jahre „Kampftag der Arbeiterklasse“ und ein Wetter wie zum Tschernobyl-Mai 1986. Die weise Führung - fast so alt wie der Feiertag hätte auf ausnahmsweise unbeheizter Tribüne die Kampfesgrüße ihrer Werktätigen entgegennehmen können. Und was wäre zu feiern gewesen! All die sozialen Errungenschaften und die Vollbeschäftigung und die Perspektiven und die soziale Sicherheit... Das soll nun nicht mehr sein.
Die Karl-Marx-Allee liegt verlassen. Der Umweg an den Tribünen vorbei ist nicht mehr nötig. Die Bockwurstbuden und Schießstände sind direkt erreichbar geworden. Die Linden sehen sich zur Frühlingsfestpromenade aufgerüstet, und der Marx-Engels-Platz ist in einen sommerlichen Weihnachtsmarkt verwandelt, auf dem Stuntmen und -women ihre schönsten Verkehrsunfälle zeigen. Die Stimmung schwankt zwischen Gelöstheit und Ostgeld-Schlußverkaufshektik.
Abseits dessen, für eine Stunde in den Lustgarten verbannt, üben sich 7.000 DDR-Gewerkschafter in der Reanimation des Kampftages. Die FDGB-Vorsitzende Helga Mausch fordert zwar - aber mehr als ein nach Bonn gerichteter Fürbittgottesdienst ist an diesem 1.Mai 1990 nicht zu schaffen. Zu tief sitzen die Rituale und Verunsicherungen. Nach dem Zug durchs Brandenburger Tor vereinigen sich Ost und West-Gewerkschafter vor dem Reichstag, um zu guter Letzt Brüder zur Sonne... anzustimmen. Alles singt - aber auch hier hat die Realität die alten Lieder eingeholt. Der Großteil der werktätigen Brüder (und Schwestern) hat sich die Freiheit, in die Sonne zu ziehen, längst genommen.
Ohnehin war der eigentliche Feiertag wohl der verkaufsoffene Montag in West-Berlin. Zehntausende DDRler, die - wenn man ihren Versicherungen glauben darf - diesen Werktag vorgearbeitet hatten, zog es in dieses Stück Westen im Osten - der Kudammbummel als Blick in die noch unvorstellbare Westgeldzukunft.
Insofern konnte dieser 1.Mai kein Tag der Gewerkschaften und der Arbeitskämpfe sein - zu fern noch die neue Wirklichkeit und zu fern schon die alte.
Was bleibet aber, stifteten die Meteorologen und die Zuckerwatteverkäufer.
Jürgen Kuttner
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