: 16 Millionen DDR-BürgerInnen auf die Couch?
Der Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz über die psychischen Deformationen der DDR-BürgerInnen / Die Revolution hat die Neurosen nur angekratzt ■ I N T E R V I E W
Hans-Joachim Maaz ist einer der ersten Psychotherapeuten in der DDR. Seit 1980 arbeitet er als Leiter der psychotherapeutischen Abteilung am Krankenhaus des Ev. Diakoniewerks in Halle. Im Laufe von 10 Jahren konnte er so, im Schutz der Kirche, mehr als 5.000 PatientInnen stationär oder ambulant behandeln. Sein Fazit: Das chronische Defizit bei der Befriedigung der natürlichen Grundbedürfnisse und die repressive soziale Kontrolle durch den Staat führte zur Entwicklung einer sozialen Fassade mit einer dahinterliegenden, meist unbewußten Schicht gestauter Ängste und Aggressionen. Demzufolge neigen die Menschen zu Autoritätsgläubigkeit, Ängstlichkeit und Anpassung. Die taz sprach mit dem Psychotherapeuten über die Ursachen dieses „chronischen Mangelsyndroms“ und die Perspektiven der psychischen Entwicklung der Menschen in der DDR.
taz:Ist die Ursache für dieses „chronische Mangelsyndrom“ tatsächlich „nur“ das stalinistisch geprägte System?
H.-J. Maaz: Es hat diese Probleme verschärft. Ich denke, die eigentlichen Ursachen sind in der überwiegend autoritären familiären Erziehung zu suchen. Die Eltern haben entweder selbst das faschistische System erlebt und dort Charakterdeformierungen davongetragen, die sie an ihre Kinder weitergaben, oder sie merkten sehr bald, daß die Kinder auf eine bestimmte Art und Weise erzogen werden mußten, die nicht etwa ihren Bedürnissen, sondern dem Willen des Systems entsprachen. Und so war die familiäre autoritäre Erziehung undurchdringbar mit der staatlich-autoritären Situation verwoben. Für den Einzelnen gab es somit zwei Möglichkeiten: Entweder er hat den Forderungen „Sei tüchtig, leiste was“ nachgegeben, um - wenn schon nicht geliebt wenigstens anerkannt zu werden, oder er hat resigniert und wurde depressiv. Daraus erwuchs dann auch diese Versorgungsmentalität - das war einerseits die Folge des Mangelsyndroms, anderseits aber auch stille Rache nach dem Motto: „Ich verweigere mich, nun seht zu, wie ihr mit mir fertig werdet!“ Die Menschen haben ihre Kreativität dem System verweigert.
Muß die Entscheidung zwischen Leistung und Resignation nicht auch in kapitalistischen Systemen getroffen werden?
Ja - aber im Westen entscheiden sich meiner Meinung nach die Menschen eher für Leistung als bei uns. Im Westen dominiert der Schein, sich immer frisch, jung und dynamisch zu geben, um sich damit besser auf dem Markt verkaufen zu können, also das Hysterische. Der Grund liegt für mich darin, daß es dafür von außen auch reale Erfolge gibt: Geld. In der DDR hat es eine solche Erfolgsspirale nicht gegeben, da war die Anerkennung höchstens moralischer Natur.
Soll das heißen, Geld schützt vor psychischen Deformierungen?
Nein, die Macht des Geldes erzeugt die gleiche Deformierung wie bei uns die Macht der Unterdrückung. Die Macht des Geldes macht die Deformierungen weniger erkennbar, die inneren Wunden werden mit Geldscheinen zugeklebt.
Müssen jetzt also 16 Millionen Menschen auf die Couch eines Therapeuten?
Ich neige dazu, ja zu sagen. Mir ist natürlich klar, daß sich nicht ein ganzes Land auf die Couch legen kann. Mir geht es vor allem darum, den Einzelnen zu erreichen, der begreift, daß er deformiert wurde, daß er seine damit verbundenen Probleme aber auch auflösen kann.
Wer aber soll ihn dann therapieren - schließlich waren auch die Therapeuten Teil des Systems.
Ich denke, dazu ist einfach ein langer Prozeß vonnöten. Dazu gehört ein Zusammenspiel von Therapeuten und Öffentlichkeit, Politikern, Künstlern und Intellektuellen, die diese Probleme zur Sprache bringen, informieren und diskutieren.
Inwieweit hat die politische Wende in der DDR zu einem psychischen Gesundungsprozeß der Menschen beigetragen?
Teils, teils. Die anfängliche Massenbewegung hatte eine Sozialenergie, die auch ein Stück innerer Befreiung bewirkt hat - zumindest in den ersten Wochen. Die Kraft der Bewegung hat jedoch nicht ausgereicht, um die individuelle Gestörtheit mit zu überwinden. Viele von uns haben deshalb auach die Masse gesucht, um ein Stück Gesundheit zu finden. Jetzt aber, fürchte ich, gibt es einen Rückschlag. Die DDR wird lange Zeit das Armenhaus Deutschlands bleiben und diese Erfahrung wird die innere Demokratisierung der Menschen erst recht zurückschrauben. Sie werden erneut die Verdrängung suchen und zwar diesmal auf dem westliche Weg.
Der Verdrängungsmechanismus bleibt also bestehen.
Er wird sogar verstärkt. Die Menschen haben eine erneute Enttäuschung erlitten, das verletzt und verstärkt die Verdrängung. Am Montag nach der Wahl war bei uns in der Klinik eine völlig depressive Stimmung, weil klar war, daß der Großteil der Bevölkerung nur so leben will wie die im Westen. Die Idee einer inneren Befreiung war verloren gegangen. Gleizeitig kommen neue Mechanismen der Abwehr auf uns zu, neue Feindbilder, die vom eigenen inneren Elend ablenken.
Sind solche Feindbilder nicht auch die Staatssicherheit und das sozialistische System?
Ja, genau. Die eigene Täterschaft wird von den meisten verleugnet und soll mit dem Sündenbockmechanismus abgedrängt werden.
Was tun Sie selbst, um Ihre eigene Schuld zu erleben?
Indem ich darüber nachdenke, wo ich versagt habe. Ich habe auch die Karriere gesucht und Dinge mitgetragen, die mir nicht gefallen haben. Rein praktisch habe ich mich in den letzten Jahren für die „Therapie für Therapeuten“ engagiert. Ich selbst bin Therapeut geworden, weil ich Neurotiker bin, und ich weiß, daß es vielen so geht. Für meine Forderung, daß Psychotherapeuten eine andere Ausbildung brauchen, in der sie auch die eigenen Störungen erkennen und verarbeiten, bin ich sehr angefeindet worden. Ich habe dann einfach in meiner eigenen Klinik Kollegen aufgenommen und mit ihnen Therapie gemacht und allmählich hat sich das als Lehrerfahrung etabliert.
Wie reagieren die Menschen in der DDR zur Zeit auf Ihre These, daß der psychische Verdrängungsmechanismus weiter anhält?
Ich spüre eine zunehmende Feindseligkeit, weil sich viele getroffen fühlen und das macht ihnen Angst.
Was ist Ihre Utopie von Deutschland in 10 Jahren?
Ich befürchte, es wird eine Gefahr für Europa sein. Die unbewältigte innere Problematik bleibt, und wenn die Euphorie des „Wirtschaftswunders“ vorbei ist, dann fehlt auch der wesentliche Ersatz. Entweder es gibt neue Feindbilder oder eine Krise von außen, zum Beispiel ein ökologische Krise, die zur Besinnung führt.
Martina Habersetzer
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