: Es stank vorm Parlament
■ „Ohne Umwelschutz läuft gar nix“ - Greenpeace-Aktion vor der Volkskammer in Berlin / Skandalöse Umweltsituation ist alarmierend
Berlin (taz) - Schade, daß man Gestank nicht sinnlich wahrnehmbar abdrucken kann. Jedenfalls hat es gestern vor der Volkskammer in Berlin zum Himmel gestunken.
Auf den Treppen zum Hohen Haus kippte Greenpeace einen Bruchteil dessen vor die Füße der Abgeordneten und der Regierung der DDR, was die Natur und die Menschen seit Jahren vergiftet: Zehn Kanister „Wasser„-Proben aus der Elbe umfaßte der Liebesgruß, entnommen aus den Gesundbrunnen solcher Betriebe wie Fotochemisches Kombinat Wolfen, Chemisches Kombinat Bitterfeld, VEB Fahlberg List und VEB Großgaserei in Magdeburg, Zellstoffwerke in Wittenberge und Synthesewerk Schwarzheide.
Obwohl das Ticken der ökologischen Zeitzünderbombe nicht zu überhören ist, ist ihr Zünder noch nicht entschärft. Das die Dreckbrühe in Oder, Mulde, Saale, Pleiße, Elbe, Havel und anderen „Flüssen“ alles andere als genießbar ist, ist zumindest den Anrainern zur Genüge bekannt: So ist das Baden in der Elbe lebensgefährlich; wenn da noch ein Fisch in diesem Gewässer lebt, sollte er lieber nicht auf den Tisch gelangen, um gegessen zu werden.
Was schockiert, ist die von Greenpeace in den Schmutzschleudern entlang der Elbe während der vierwöchigen Tour mit dem Schiff „Beluga“ festgestellte Ahnungslosigkeit der Verantwortlichen. Mitunter herrscht totale Ignoranz in den Betrieben über die Gefährlichkeit der in den Strom abgelassenen giftigen Stoffe.
An technischen Hilfsmitteln wie moderner Meßtechnik zur Ermittlung der Schadstoffkonzentration und Zusammensetzung der Substanzen fehlt es oder sie sind nur mangelhaft vorhanden.
Jedoch müßte jeder Zehnklassenschüler wissen, daß Benzol für alles andere als zu einem Brotaufstrich taugt und im Brausepulver unmöglich vorkommt.
Entlang der gesamten Elbe wird penetrant das Wassergesetz gebrochen. Damit das tödliche Gemisch aus aromatischen und chlorierten Kohlenwasserstoffen - unter anderem Toluol, Xylole, Chloroform, Tetrachlorkohlenstoff oder Chlorphenole
-und aus Schwermetallen - Cadmium, Quecksilber und Zink erst gar nicht in die Flüsse geleitet wird, müßten viele Produktionsbereiche eigentlich vorübergehend eingestellt werden.
Der Zustand dieser Betriebe ist ein weiteres Kettenglied in der Bankrotterklärung des SED-Regimes. Er veranschaulicht die jahrelang praktizierte organisierte Verantwortungslosigkeit und die völlige Vernachlässigung des Umweltschutzes.
Radikale Konsequenzen sind nicht populär, doch notwendig. Ökonomische Erwägungen dürfen ab sofort keinen Vorrang mehr vor ökologischen Notwendigkeiten haben. Selbst eine drastische Reduzierung der Einleitung der Schadstoffe in die Elbe wird nicht ausreichen, um das ökologische Gleichgewicht des Flusses wieder herzustellen. Daher fordert Greenpeace, daß Schadstoffe grundsätzlich aus dem Wasser verschwinden.
Die Industriebetriebe sind nach Ansicht von Greenpeace auf keinen Fall allein in der Lage, diese Misere zu beheben. Der Ausstieg beispielsweise aus der Chlorchemie würde der Umwelt und dem Öko-System Fluß gut zu Gesicht stehen, zieht aber gleichzeitig den Verlust von Arbeitsplätzen nach sich. Hier ist die Hilfe der Politiker nötig und auch die Kooperation mit anderen Ländern.
Der vorbeugende Umweltschutz genießt nicht den nötigen Stellenwert, den er eigentlich einnehmen müßte. Jedoch konstatierte Greenpeace Aufgeschlossenheit sowohl bei den Betrieben als auch bei den Behörden zu diesem Thema. Die Offenheit resultiert auch aus einer Hilflosigkeit dieser Situation gegenüber.
Angesichts der bekannten und von Greenpeace ausgesprochenen skandalösen Verhältnisse erscheint ein radikaler Umbau der Wirtschaft der DDR um so notwendiger und volkswirtschaftlich geboten, um weitere Umweltschäden zu verhindern.
abc
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen