: Alte Bäume oder Grundschüler
■ Charlottenburger Anwohner wehren sich gegen die Errichtung einer jüdischen Grundschule / Antijüdisches Ressentiment oder Mißverständnis?
Charlottenburg. Die Grundschule der Jüdischen Gemeinde in der Bleibtreustraße platzt aus allen Nähten. 150 Kinder lernen dort das ABC, die Geschichte ihres Volkes und des Judentums, sowie die hebräische Sprache. Im nächsten Jahr werden es 180 Kinder sein, die antisemitische Pogromstimmung in der Sowjetunion treibt zunehmend russische Juden aus dem Land und nach Berlin. Die 1986 eingerichtete Schule ist trotz einem geplanten Erweiterungsbau zu klein und obendrein ein Provisorium. Der Mietvertrag läuft im Juli 1994 aus. Ein Umzug oder Neubau an einem anderen Standort ist daher notwendig - und zwar bald. Und hier beginnen die Kalamitäten, denn verfügbarer Platz ist rar.
Die zuständigen Senatsverwaltungen, die Bezirke und die Jüdische Gemeinde haben 28 Standorte in West-Berlin geprüft, und 27 kamen nicht in Frage. Mal fehlten die Möglichkeiten für eine Ganztagsunterbringung, mal der Schulhof, und mal wurden Favoriten wegen Asbestgefahr geschlossen. So blieb nur ein Gelände für einen Neubau übrig: ein Areal auf der Waldschulallee 73/75. Die reiche Vegetation, die Nähe zu Wald- und Sportplätzen prädestiniert das Gelände für eine Ganztagsschule, und die rechtlichen Voraussetzungen sind gegeben. Und es gibt noch einen Vorteil. Wenige hundert Meter entfernt liegt die Waldoberschule, ein Wechsel nach der sechsten Grundschulklasse in die normale Oberschule bietet sich geradezu an. Die Jüdische Gemeinde hat daher gerne das Senatsangebot angenommen und sich für diesen Standort entschieden.
Alle könnten jetzt zufrieden sein, gäbe es nicht einen Schönheitsfehler. Die Anwohner wurden nämlich nicht gefragt, das demokratische Prinzip der Bürgerbeteiligung vom Senat mißachtet. Mittwoch abend fand zum erstenmal eine öffentliche Informationsveranstaltung des Bezirks Charlottenburg, der zuständigen Senatsverwaltungen und der Jüdischen Gemeinde statt. Der Abend war von Mißverständnissen, Peinlichkeiten und gegenseitigen Verletzungen durchzogen, die vermeidbar gewesen wären, hätte sich der Senat im Vorfeld der Entscheidung um mehr Bürgernähe bemüht. So kam Bitteres auf den Tisch, und es wurde ein Lehrstück darüber, daß die Vergangenheit die Gegenwart immer wieder einholt, daß die Beziehungen zwischen Juden und Deutschen nicht normal sind - auch wenn es scheinbar „nur“ um Bezirkspolitik geht.
Neben der geplanten Grundschule liegt das heute unter Denkmalschutz stehende ehemalige Olympia-Sportärztehaus von 1936. Das Haus wird heute als private Kindertagesstätte genutzt. Die Betreiber fürchten um ihren Standort, denn einen Vertrag über die Weiterexistenz existiert nicht. Es gibt eine Absichtserklärung der Jüdischen Gemeinde, und ihr Vorsitzender Galinski hat es gegenüber der taz bestätigt, daß, „wenn die technischen Möglichkeiten es zulassen, die Kita stehen bleiben soll“. Aber - und das ist das Problem keiner kennt die technischen Möglichkeiten, denn der Architektenwettbewerb für den Neubau ist noch nicht ausgeschrieben. Für Unruhe sorgte eine wie aus dem Hut gezauberte Erklärung eines Mitarbeiters der Senatsverwaltung für Bauen und Wohnen. Zur Verblüffung aller informierte er die Anwesenden, daß die Asbestprüfung des ehemaligen Ärztehauses negativ verlaufen ist - die Zukunft der Kita scheint unsicherer denn je.
Ebenfalls ungeklärt sind die Verkehrswege zum Neubau, die Anwohner fürchten die Errichtung von Parkplätzen für die Jüdische Grundschule und das Abhacken von vielen alten Bäumen. Ungeklärt ist auch der Wechsel von der Grund- in die Wals-Oberschule. „Wo bitte soll in den vorhandenen Räumen mindestens eine zusätzliche neue Klasse untergebracht werden?“ fragt der aufgebrachte Schulleiter. Auch er, mit dessen Kooperation die Bezirksverwaltung argumentierte, wurde in die Planungen nicht einbezogen.
Das Mißtrauen der um ihre Privilegien besorgten Anwohner riß Wunden auf bei den zuhörenden jüdischen Bürgern. Sie interpretierten die Stimmung im Saal als antijüdisches Ressentiment und verließen die Aula der Schule. Öl in das Feuer schüttete die Vertreterin der Jüdischen Gemeinde, die sich an die alten Transparente, „Wir wollen keine Judenschule“, erinnert fühlte. „Ich hätte geglaubt“, sagte sie, „daß die Charlottenburger Bevölkerung liberal geworden ist“, und jetzt müsse sie sich „vom Gegenteil“ überzeugen lassen. In die gleiche Kerbe des schlechten Gewissens schlug ein Vertreter der Kulturverwaltung. „Die Errichtung eines Neubaus für die Schüler der Jüdischen Gemeinde ist ein Stück Vergangenheitsbewältigung“.
Aber genau das war es, was die Anwohner nicht hatten hören wollen. Der immer wieder latent unterstellte Antisemitismus führte dazu, daß der Schulleiter mit anderen ebenfalls die Aula verließ. Selbstverständlich, betonten die Kritiker eines Neubaus immer wieder, unterstützen „wir die Errichtung einer jüdischen Privatschule“, bloß „halten wir das ausgeguckte Gelände und die faktenschaffende Vorgehensweise des Senats für falsch“. Da nützte die Entschuldigung des Senatssprechers wenig. Die Gräben zwischen Deutschen und Juden sind in Charlottenburg wieder etwas tiefer geworden.
aku
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen