piwik no script img

Nur eine „gigantische Imitation des Marktes“?

Die Sowjetunion plant einen beschleunigten Übergang zur Marktwirtschaft, aber niemand glaubt daran/ Drei Versuche mit wirtschaftlichen Reformen hat Gorbatschow schon hinter sich/ Die psychosozialen Voraussetzungen für eine Marktwirtschaft fehlen  ■  Aus Moskau K.-H. Donath

Für Johannes Groß, stellvertretenden Chefredakteur des bundesdeutschen Wirtschaftsmagazins 'Capital‘, ist alles nur noch eine Frage der Zeit. Im Reformerblatt 'Moskowskije Nowosti‘ schmeichelt er seinen Gesprächspartnern mit der Vision eines bevorstehenden sowjetischen Wirtschaftswunders. Wie Balsam muß es für die Seele gestrauchelter Sowjetökonomen sein, wenn der einflußreiche Redakteur ankündigt: „In drei bis vier Jahren werde ich sicherlich Anteilseigner einer sowjetischen Aktiengesellschaft sein“.

Die kaukasische Bäuerin auf dem Moskauer Rischskij-Markt, dem größten und buntesten Kolchosmarkt der Hauptstadt, versteht zwar wenig von Makroökonomie. Ihr Wissensdefizit kompensiert sie dadurch, daß sie genau weiß, was der Rubel wert ist. Noch fährt sie damit besser und wird auch auf längere Sicht mit Herrn Groß keine gemeinsame Aktien zeichnen. Ihre Devise ist trivial, aber praktikabel: Kaufen, was zu kriegen ist.

Wie bei den meisten Sowjetbürgern fällt ihre Prognose der wirtschaftlichen Zukunft des Landes düster, wenn nicht gar apokalyptisch aus. Eigentlich will man sich gar nicht mit diesem Kapitel beschäftigen. Daher bleibt auch die Frage unbeantwortet, was sie denn von dem angekündigten Regierungsprogramm eines „beschleunigten Überganges zur Marktwirtschaft“ hält. Geradezu mitleidsvoll schaut sie auf den Fragesteller herab, der genau weiß, was ihr durch den Kopf geht: „Sag mal, bist Du eigentlich von dieser Welt?“

Leben im Transit

Zu viele ökonomische Reformprogramme sind schon verabschiedet worden, ohne daß sie für den Verbraucher irgendwelche Verbesserungen gezeitigt hätten. Und auch Gorbatschow hat schon seine drei Versuche hinter sich. Erst ging es um „Beschleunigung durch Mehrinvestition in die Modernisierung der Unternehmen“, dann folgte ein „radikaler Umbau der Wirtschaftsleitung“ 1987 und im Dezember '89 unterbreitete Leonid Abalkin einen Stufenplan zum Einstieg in die Marktwirtschaft, angelegt auf vier bis sechs Jahre.

Und was hat das alles gebracht? Nichts als eine weitere Verschlechterung des Versorgungssystems. Das alte wurde destabilisiert und ein neues ist nicht in Sicht, werden Sowjetbürger antworten. Mit dem Hinweis, dies sei vielleicht nur eine „Übergangserscheinung“, lassen sie sich nicht mehr abspeisen. Zu lange lebten sie im Transit.

Ein Kuriosum jüngster Vergangenheit, das zugleich einen anderen Einblick in die sowjetische „Sozialpsyche“ gewährt: Unlängst änderte der Oberste Sowjet das „Gesetz über sozialistische Betriebe“, dessen Erstnovellierung noch nicht allzulange zurückliegt. Es sah die Unabhängigkeit der Unternehmen bei Entscheidungen über Lohnfragen und Handelsbeziehungen vor. Vor allem aber konnten die Belegschaften in Eigenregie ihre Betriebsleitung einsetzen und abberufen. Die Folge war nicht etwa, ein Anwachsen der Rentabilität. Stattdessen wuchs der Konsumfonds der Werktätigen, die Materialverschwendung nahm zu und immer weniger Ressourcen gelangten in den Produktionsbereich.

Die Erklärung ist einfach, man hatte Leiter gewählt, die besonderes Verständnis für die individuellen Belange ihrer Werktätigen aufbrachten. Das Unternehmensrisiko, das - laut Gesetz- von den Betrieben getragen werden sollte, fiel in der Praxis wieder an die Ministerien zurück, die bei wirtschaftlichen Problemen mit ihren Fonds helfend einsprangen. Nun sollen auch die Betriebsleitungen wieder von der Zentrale eingesetzt werden.

Zwei Preissysteme

Für die Kolchosnitsa vom Rischskij-Markt spielt das alles keine Rolle. Auch nicht für ihren Kollegen zwei Stände weiter: Ungläubig schaut er auf die vier Zitronen, die ich vor ihm aufreihe. Dann verstehe ich warum. 16 Rubel will er dafür haben und offensichtlich hält er mich für keinen solventen Kunden. 16 Rubel sind fast ein Zehntel eines Durchschnittslohnes. Gorbatschow könnte sich im Monat nur 250 Zitronen leisten. Kein Wunder, daß da mancher lieber in den sauren Apfel beißt. Auch ich lasse Zitrone Zitrone sein.

Schon jetzt existieren zwei Preissysteme nebeneinander, das staatliche und das quasi private, die für gleiche Waren um das Vielfache differieren. Nur sind die staatlichen Geschäfte leer, vor allem Fleisch und Gemüse tauchen hier selten auf und Zucker gibt es in Moskau nur noch auf Bezugsschein. Insofern sind die Sowjets nicht ganz unvorbereitet, wenn das von Ministerpräsident Ryschkow kürzlich angekündigte Reformprogramm, in dessen Zentrum die Aufhebung der Preisbindungen stehen soll, bis Juli tatsächlich implementiert werden sollte.

Bis dahin fließt noch eine Menge Wasser die Moskwa hinunter. Eine merkwürdige Beobachtung: Besserverdienende Moskowiter nehmen bereits heute die hohen Preise, ohne sie im Verhältnis zu ihrem Einkommen zu sehen, als etwas ganz Normales hin.

Daß der Übergang zum Markt nun doch noch in diesem Jahr in Angriff genommen werden soll, signalisiert den Ernst der wirtschaftlichen Lage. Die Bilanz fürs 1. Quartal '90 im Vergleich zum Vorjahr fällt auch dementsprechend katastrophal aus: Die Industrieproduktion sank um weitere 1,2 Prozent, das Nationaleinkommen um 2 und die Arbeitsproduktivität gar um 2,2 Prozent, und trotz der Rüstungsbeschränkungen stieg das Haushaltsdefizit. Experten prognostizieren ein Loch von 90 Milliarden Rubel für 1990. Statt der geplanten 60. Die Inflationsrate - offiziell bei 7,5 Prozent - soll auf 17 Prozent klettern.

Hier soll nun ein Reformpaket mit über 30 Gesetzen Abhilfe schaffen. Vorgesehen ist, kleine, unrentable Firmen an die Belegschaften zu verkaufen und größere Unternehmen in Aktiengesellschaften der Beschäftigten zu verwandeln, allerdings will sich der Staat hier noch eine Anteilsmehrheit sichern. Finanzreformen projektieren die Schaffung neuer Privat- und Handelsbanken sowie eines Effektenmarktes. Das ungerechte lineare Steuersystem -bisher wurden alle Bürger mit 13 Prozent zur Kasse gebeten- wird einer progressiven Besteuerung weichen. Und zum ersten Mal auf sowjetischem Boden sollen ausländische Firmen im Zuge einer Liberalisierung der Außenhandelsgesetze ohne einheimische Supervisoren arbeiten können. Eine Reaktion auf die nur schwerfällig anlaufenden joint-ventures.

Psychologische Einstimmung

Am unmittelbarsten würden die Sowjetbürger aber von der Preisreform und drohenden Arbeitslosigkeit betroffen sein, die sich bei Umstellung auf Marktbedingungen nicht vermeiden ließe. Das staatliche Plankomitee, Gosplan, sprach von mindestens 20 Millionen Arbeitslosen, 15 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung. Daß diese Perspektive in Partei und Staat für Erschütterungen sorgt, verwundert nicht und erklärt gleichzeitig, warum Details der Gesetzesvorhaben immer noch nicht bekannt wurden. Dabei sind die Zeitungen der letzten Wochen voll mit Beiträgen wie „Kein Markt ohne Aktien“ oder „Brauchen wir den Markt“ - die psychologische Einstimmung läuft auf Hochtouren.

Mitarbeiter des Instituts der Ökonomie des sozialistischen Weltsystems, dem der radikale Ökonom Bogomolow präsidiert, halten einen raschen Übergang zum Markt für unrealistisch. Dazu reichten die Gesetzesvorhaben nicht aus. „Schon erlassene Gesetze zu Landreform und Pachtsystem haben so globalen Charakter und sind so voll von Schlagwörtern, daß sie eigentlich unbrauchbar sind“, meint der Wirtschaftswissenschaftler Lew Paley. Hinzu kommt noch, daß es keine Fachkräfte gibt. „Nicht einmal die radikalen Befürworter eines Marktes bei uns, wissen wovon sie reden. Sie jonglieren mit Begriffen aus der Welt des Marktes, ohne daß bei uns die Voraussetzungen dafür bestehen.“ Ein entscheidendes Hemmnis, radikale Reformen durchzuführen wie in Polen -, seien die leeren Kassen des Staates. „Woher sollen die Mittel kommen, um die Massenarbeitslosigkeit zu finanzieren? In Polen stand die Bevölkerung hinter den Maßnahmen der Regierung. Das ist bei uns nicht der Fall“.

Geringe Akzeptanz

Im Gegensatz zum übrigen Osteuropa sehen die Sowjetbürger im Markt nicht unbedingt ein Allheilmittel. Das wäre auch zuviel verlangt, nach 70 Jahren, in denen Markt und Ausbeutung gleichgesetzt worden sind. Und nun auf einmal innerhalb weniger Monate umdenken? In der Tat scheint die psychologische Barriere bei den Sowjets ziemlich hoch zu sein. Die Regierung ist sich dieser Problematik bewußt und scheint soziale Unruhen zu befürchten. Vor einigen Wochen gab sie Studien in Auftrag, die die Akzeptanz einer drastischen Reformpolitik ausloten sollten. Noch sind die Ergebnisse nicht veröffentlicht. Aus gutem Grund. „Denn“, so ein Mitarbeiter des Forschungsinstituts, „Unruhen lassen sich nicht ausschließen, wenn ich ehrlich sein soll. Die Reformen verlangen eine völlig andere Haltung der Menschen zu ihrer Arbeit und ihrem Geschäft. Streben die Menschen im Westen ständig nach Gewinn, so ist das bei uns ganz anders. Der Lebensstil unterscheidet sich diametral. Die Untersuchungen haben gezeigt, die meisten Leute sind schon mit einem bescheidenen, aber garantierten Einkommen zufrieden.“

Ähnliches meinte auch der Radikalreformer Schostakowskij von der Parteihochschule: „Sorgt dafür, daß ich meinen Lohn kriege und genügend Wurst und Käse in den Geschäften ist, mehr will ich nicht.“ Das sei die verbreitetste Haltung. Angesichts dieser Ergebnisse scheint es nicht unwahrscheinlich, daß sich Vorschläge, die Reform noch einmal bis Jahresfrist aufzuschieben, auch durchsetzen. Aber selbst wenn man sie jetzt anginge, „käme nicht mehr als eine gigantische Simulation des Marktes heraus“, bedauert der Ökonom Paley und bittet den Journalisten aus dem Westen auf solche reißerischen Titel zu verzichten wie „Die Sowjetunion nimmt Kurs auf den Markt“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen