Eine gefährliche Chance

■ Der Metall-Tarifabschluß betritt gesellschaftspolitisches Neuland

Für DDR-ArbeitnehmerInnen mag das, was jetzt für die Metallindustrie der Bundesrepublik ausgehandelt worden ist, erscheinen wie von einem anderen Stern. Ihre unmittelbaren Sorgen sind andere als die 35-Stunden-Woche und jene sechs Prozent, die nun auf die für sie ohnehin unvorstellbar hohen Löhne aufgeschlagen werden. Und dennoch geht es sie an: Wie anders als durch Arbeitszeitverkürzung und Arbeitsumverteilung können die Beschäftigten in solidarischer Weise jener Arbeitslosigkeit begegnen, die unweigerlich kommen wird? Das was jetzt in Göppingen ausgehandelt wurde, ist nicht ein simpler Lohnvertrag, sondern ein Stück tariflich fixierter Gesellschaftspolitik unter kapitalistischen Bedingungen.

Unter diesem Aspekt ist das hervorragendste Ergebnis der Verhandlungen, daß die Arbeitszeitverkürzung als gewerkschaftlicher Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit fortgesetzt wurde, wenn auch mit geringerem Tempo als in den letzten Jahren. Die IGMetall mußte lavieren zwischen dieser prinzipiellen Position und der Stimmung in den Betrieben, die nach Jahren der Einkommensstagnation eindeutig auf kräftige Lohnerhöhungen setzte. Nun steht die 35 im Vertrag und die Gewerkschaft bekommt freie Hand, sich anderen tarifpolitischen Feldern zuzuwenden beziehungsweise sich auf den Wiederaufbau einer handlungsfähigen gewerkschaftlichen Struktur in der DDR zu konzentrieren.

Ambivalent ist die Bestimmung, wonach 18 Prozent der Belegschaften in Zukunft zwischen Geld und Arbeitszeitverkürzung wählen können. Dies ist gefährlich und eine Chance zugleich. Einerseits ist sie ein positiver Schritt in Richtung „Individualisierung“, beinhaltet sie einen Zuwachs an persönlicher Autonomie für die betroffenen Beschäftigten. Anderseits kommt dies nur dem qualifizierten, gutverdienenden Teil der Beschäftigten zugute - die Aufspaltung der Belegschaften in eine „privilegierte“, im betrieblichen Geschehen ohnehin durchsetzungsfähige Minderheit mit weitreichenden Autonomiespielräumen und eine Mehrheit ohne derartige Möglichkeiten persönlicher Lebensgestaltung wird dadurch verstärkt und der Gewerkschaft in Zukunft noch zu schaffen machen. Insofern eröffnet der Abschluß von Göppingen innerhalb der Gewerkschaften und zwischen den Tarifparteien ein neues, noch weitgehend unerschlossenes Feld gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen, in dem nur eines sicher scheint: das seiner Interessen selbst-bewußte Individuum spielt darin eine größere Rolle als bisher.

Martin Kempe