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Nur Bummelzüge nach Berlin

■ Nord-Chef der Bundesbahn prophezeit Lasterlawine, weil Berlin-Schnellverbindung erst 1998 kommt

„Die Zeit arbeitet gegen die Bahn.“ Herbert Heise, Chef der Bundesbahndirektion Hamburg (zuständig für Nordniedersachsen, Hamburg, Schleswig-Holstein), fürchtet im Ost-West-Verkehr zu spät zu kommen. „Ich habe Sorge, daß zuviel Zeit verloren geht, bis die notwendigen Investitionen realisiert sind.“ Beim Kampf um den sich explosionsartig entwickelnden Verkehrsmarkt im norddeutschen Ost-West -Verkehr ist nach Heise „die Infrastruktur das A und O“. Im Klartext: „Wenn die Straßen gebaut sind, fahren die Lkw.“

Der 9. November hat die Bundesbahn kalt erwischt. Alle Kräfte des größten europäischen Verkehrsunternehmens sind nämlich derzeit auf die Realisierung des neuen Intercity -Zeitalters ausgerichtet, welches im Juni 1991 beginnen soll. Dann wird der deutsche Hochgeschwindigkeitszug ICE von Hamburg aus auf der Strecke Hannover-Kassel-Würzburg-München die schnellste Nord-Südverbindung der deutschen Verkehrsgeschichte (Flugzeug ausgenom

men) darstellen, die zwischen Hamburg und München nur noch fünf Stunden verstreichen läßt.

Währenddessen zuckeln die Züge auf der Strecke Hamburg -Berlin im Tempo der Bismarck-Ära mit 4 1/2-Stunden Fahrzeit, wo schon in den 30er Jahren die Fahrzeit nur 2 1/4 -Stunden betrug, eine Verbindung nach ICE-Standard sogar auf 1 1/2 Stunden käme. Für nur 900 Millionen Mark, so Heise, ließe sich die Strecke Hamburg-Büchen-Berlin zu einer Strecke mit Tempo 200 ausbauen. Fahrzeit nach Berlin dann: Unter 2 Stunden.

Die Bahn rechnet mit einer Versechsfachung des Ost-West -Güter-Verkehrs. Bisheriger Bahnanteil: 55 Prozent. Schon heute gibt es dabei Probleme. Beispiel Büchen, das in kurzer Zeit wieder zu einem Güterumschlagszentrum alten Ranges werden könnte: Zwischen Schwarzenbek, Büchen und Schwanheide verläuft die alte Schnellzugstrecke derzeit nur eingleisig. Bis Aumühle blockiert die S-Bahn die volle Nutzung der Strecke. So kommt es schon heute

zu enormen Verspätungen beim Personen- und Güterzugverkehr.

Doch Bundesverkehrsminister Friedrich Zimmermann räumt dem Straßenausbau absolute Priorität ein. Planung und Bau der Bahnbahnstrecken dauert dank der chaotischen bundesdeutschen Genehmigungsbürokratie lange, sodaß frühestens 1995 Züge im Tempo der 30er Jahre Berlin und Hamburg verbinden könnten.

Doch selbst dieser Termin wird nicht eingehalten werden: Ein pfiffiger Vorschlag der Arbeitsgemeinschaft Öffentlicher Verkehr Uelzen (AGÖV) aus dem Jahr 1988 sorgt für Unruhe und blockiert die Entscheidungsverfahren. Die AGÖV hatte vorgeschlagen, Berlin und Norddeutschland über ein Schienen -Ypsilon zu verbinden. Die Streckenführung würde Hannover, Bremen und Hamburg gleichermaßen gut an Berlin anbinden. Der Bau wäre günstiger als der von zwei Strecken (Hamburg-Büchen -Berlin; Hannover-Braunschweig-Helmstedt-Magdeburg-Berlin) und würde zudem bislang nur schwach genutzte Schienen

stränge überlagern, vor allem auch die Chancen der Bahn im Güterverkehrsmarkt deutlich verbessern.

Gebaut wird das Ypsilon voraussichtlich aber nicht: Die Bundesbahndirektion Hannover hat ihre Helmstedt-Strecke schon in der Tasche, spielt derzeit die Verbindung Uelzen -Berlin lediglich gegen die Hamburger aus, die ihrerseits fest zu Bismarcks Sachsenwald-Strecke über Büchen stehen. Das Ergebnis des Streckenstreits: Erst kurz vor der Jahrtausendwende ist realistisch mit einer Schnell -Verbindung Hamburg-Berlin zu rechnen.

Bis dahin wird das Berlin-Angebot der Bahn nur ganz unwesentlich ausgeweitet. So fährt im Sommerfahrplan ab 27.5. lediglich ein Zugpaar mehr zwischen Hamburg und Berlin als vor der Maueröffnung. Moderne Wagen kommen dabei überhaupt nicht zum Einsatz. Und auch die für Bremer etwa gleichlange Strecke über Hannover nach Berlin bleibt mit sechs Stunden Fahrzeit vorerst im Bummelzugtempo stecken.

Florian Marten

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