Steffi auf kugelrundem Mandarin

■ Kresnik inszeniert Weiss‘ „Marat/Sade“ in Stuttgart

Das Theater beginnt als Film. Schwäbische Spätzle-Schickeria steigt in die Limousine mit Stern (Gekicher im Zuschauerraum) und es sieht so aus, als ginge es in's Stuttgarter Theater - wären da nicht Steffi Graf und Boris Becker mit von der Partie. Also ab zu irgendeinem Open in die „Hans-Martin-Schleyer-Halle“? Wieder falsch! Die Fahrt endet an einem Friedhof und dort wird ein ewiges Licht entzündet - auf der Grabplatte von Andreas Baader, Ulrike Meinhof und Jan Carl Raspe. Dann ist es aus (jetzt gar Applaus) und Johann Kresniks Versuch der Provokation in's Leere gelaufen. Gekratzt fühlt sich niemand (warum auch?) und gekostet hat es nur Filmmaterial. Als Peymann an gleicher Stelle für Ulrike Meinhofs Zahnbehandlung sammelte, hieß der Chef der Schwaben noch Filbinger und feuerte den Schauspielchef. Heute heißt der Schwabenchef Cleverle und ist freundlich wie Heinz Rühmann. Aber dann hebt sich doch die Leinwand und das Theater beginnt wirklich, ein Theater, auf das man schon lange gewartet hat. Ist doch der „Marat/Sade“ von Peter Weiss ein Theatertext, der sich als Libretto für Tanztheater-Phantasien geradezu anbietet. Es lag also in der Luft, daß der inzwischen zum Großmeister des deutschen Tanztheaters avancierte Kresnik sich eines Tages seiner annehmen würde. Gottseidank hat er nicht schon früher zugegriffen, muß man heute aufatmend sagen. Denn was wäre gewesen, hätte er die Weiss'sche Textmunition über Aporien und Agonien der französischen Revolution schon vor dem deutsch-deutschen Dilemma verschossen. Manch erhellender Kommentar zur Schieflage der Nation wäre auf der Bühne verweht, ohne daß man ihn als solchen hätte verstehen können. Aber Kresnik hat ja gewartet und jetzt einen Tanztheaterabend inszeniert, der gar keiner ist. Als wäre ein Schauspielregisseur am Werk gewesen, mutet seine neueste Arbeit an, und als habe er ab und an kurze Bewegungs -Choreographien eingestreut. Ein ungewohnter Kresnik, der Peter Weiss‘ Text zu seinem Recht verhilft und dem Spiel in der Irrenanstalt von Charenton ungewohnte Bilder abtrotzt. Ein Erlebnis, den Marquis de Sade als kugelrunden Mandarin zu sehen - Claus Boysen, ein desillusionierter Inszenator des Wahnsinn-Theaters, massig-elegant mit kokettem Hüftschwung. Und Jacques Roux. Der Sozialutopist, Pfarrer und ewige Störer hängt dort, wo ihn der Zensor der Irrenanstalt schon immer gerne gehabt hätte: unter der Decke. Wie ein nie landender Fallschirmspringer, der hin und wieder doch heruntergelassen wird und den die Seilwinde gerade noch rechtzeitig wieder in die Höhe zurrt, bevor er zu radikal für die Rechte des Volkes eintreten kann. Obwohl ihn Kresnik hochhängt, gilt ihm doch seine Sympathie, und natürlich dem Marat. Der sitzt wie immer mit seinem fürchterlichen Juckreiz in der Wanne. Daß Kresnik da nichts aparteres eingefallen ist - es liegt wohl daran, daß ihn die Radikalität des Jakobiners stark beeindruckt. Er nimmt ihn (zu) sehr ernst und bestraft die arme Charlotte Corday aus Caen dafür, daß sie Marat mit dem Messer an den Leib ging. Sie war ja nicht wirr, sondern ein politisch klar denkender Mensch. Daß Kresnik sie als Steffi Graf in den Kampf schickt, wirkt schon etwas ungerecht. Wenn sie am Anfang durch das Fenster einer wegkippenden Hausfront auf die schiefe Straße der Bühne geweht wird, ist das eines der schönsten Bilder des Abends. Und wenn sie dann endlich zu Marat durchdringt, reitet sie auf dem kugelrunden Mandarin. Je näher das Stück seinem Ende entgegen geht, desto intensiver mischt Kresnik Bilder der jüngsten deutschen Vereinigungswirren in's Geschehen. Das paßt zum Weiss-Text. Marat steht mit seinen Warnungen in einem Pulk johlender Fußballfans im Trikot der deutschen Nationalmannschaft und in Stuttgart wird schon einmal die Weltmeisterschaft in Italien geprobt. Über den Zuschauern, in einer Loge, sitzt die Band und intoniert „Wir sind schon am Brenner“. Dazu gibt's Nenas „99 Luftballons“ und Grönemeiers „Kinder an die Macht“. Solches Futter brauchen die konsumgelockten Mauerstürmer. Wenn dann aber noch Tom Cruise aus dem vietnamesischen Dschungel in's Schwabenland einfällt, ereilt Kresnik eine alte Schwäche. Cruise fetzt zwar schön, aber leider stimmt es nicht, daß irgendwie alles auf irgendeine Weise mit allem zusammenhängt. Kresniks engagiertes Zeit -Theater bis an die Schmerzgrenze holt bei seinen Zertrümmerungsschlägen manches Mal zu weit aus. „Sie sehn die Thore weit geöffnet schon/vom Ansturm der Französischen Revoluzion/ sonst jedoch wekt das stralend helle Licht/aus ihrem Sumpf die teutsche Blindheit nicht“, läßt Peter Weiß seinen Hölderlin im gleichnamigen Stück sagen. Zur Zeit kann nicht genug Weiss gespielt werden, und es ist verwunderlich, daß sein Hölderlin noch in keinem Spielplan auftaucht. Johann Kresnik hat den Marat/Sade aggressiv inzeniert, in einem Bühnenbild und in Kostümen, an denen nichts auszusetzen ist, denen man aber auch nicht ansieht, daß sie von Gottfried Helnwein sind. Ob der sich damit schon zufrieden geben kann?

Jürgen Berger

Peter Weiss: „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade“. Regie: Johann Kresnik. Bühnenbild und Kostüme: Gottfried Helnwein. Musik: Hans-Martin Majewski. Weitere Aufführungen am 12., 13. u. 14. Mai.