piwik no script img

Ohne Ohs und Achs

■ „Stella“ am Hamburger Schauspielhaus

Das war sicher die spektakulärste und kurzweiligste Stella-Inszenierung seit der Uraufführung am 8.Februar 1776 in Hamburg. Damals jubilierte der Chronist: „Wahrlich, wer nicht liebt, nie geliebt hat, versteht die überschwenglichen Schönheiten dieses Stücks nicht, wird nicht entflammt davon, ist nicht werth es zu werden.“ Wer am Sonntag abend im Hamburger Schauspielhaus dabei war, konnte begeistert sein, auch wenn er den Ausweis Liebestäter/Liebesopfer nicht bei sich trug.

Die Bühne ist ein hoher, vergammelter Raum. Die wenigen in Packpapier eingeschlagenen Möbel und die dicke Kalk- und Staubschicht verraten, daß der Ort seit langem leersteht. Ein Diener tastet sich vorsichtig in den Raum, prüft die Bohlen, die Wände, immer wieder entzündet er ein Streichholz, so als ob er Menschen aus dem Dunkeln anlocken wollte. Und die kommen: Cäcilie (Monica Bleibtreu) mit ihrer Tochter Luzie (Carolin Mylord) betreten die Bühne, als Reisegepäck führen sie einen Pappkarton mit sich. Der Diener (Gustav Peter Wöhler) reißt das Paket auf, als ob es voller Weihnachtsgeschenke wäre. In der Holzwolle versteckt - ein Glöckchen. Klingeling, das Stück beginnt.

Das langgezogene Vorspiel stellt, dem schwer hustenden Publikum zum Trotz, unmißverständlich klar: hier wird nicht einfach gespielt, sondern erst einmal geprüft, ob man in den alten Räumen noch spielen kann, was unter dem Staub der Jahrhunderte noch erhalten und brauchbar ist. Wer will, mag das auch als Zeitreise nutzen, einmal Weimar und zurück, die Entdeckung der Langsamkeit. Denn was dann kommt, ist ein genialisches Furioso, zwei Stunden lang heute. Frank Castorf hat begriffen, daß Goethes empfindsames Jugendstück mit seinen Ohs und Achs, seinen Tränenbächen und Entsagungen so nicht mehr funktionieren kann. Deshalb baut er den Figuren eine neue Mechanik ein, eine Feder, die den einen zu affenartigen Sprüngen treibt, die anderen stolpern läßt, die eine Schimpfkanonade al italiano oder ein wildes Trommelsolo mit einem Suppenlöffel produziert. Manchmal klemmt die Feder: dann gerät der Dialog zur unverständlichen Kunstsprache, zum albernen Kinderreim, zur Endlosschleife. Oder die Feder springt, und die aufgezogene Spieluhr liegt zerbrochen da: Cäcilie, vor Jahren von ihrem geliebten Mann verlassen, flüchtet, vom Schmerz der Erinnerung getrieben, auf eines der verpackten Möbelstücke; es ist ein Klavier, das unter dem sich windenden Körper schrillverzerrte Töne macht, ihre Sprache verheddert sich, sie gleitet zu Boden und stürzt sich wie ein Tier über die Suppe, die ihr der Diener reicht. Oder Stella, die Jüngere (Silvia Rieger), auch sie verlassen, von dem gleichen Mann, wie sich herausstellen wird: schon ihr Auftritt wird angekündigt durch die mit erhöhter Drehzahl schwingende leere Drehtür, dann klemmt die Tür, nur mit Gewalt kann sie von Luzie wieder flottgemacht werden, die beiden Frauen stürzen kopfüber auf die Bühne. Was wir sehen, sind keine Marionetten, wie Bob Wilson sie liebt, sondern Figuren, die mit einer atemberaubenden Delikatesse eine ganz und gar äußerliche Motorik benutzen, um innere, höchst individuelle Leidenschaften zu zeigen. In den beiläufig scheinenden Slapsticknummern, dem zufälligen Abkommen vom Weg, aus diesen kleinen, genau getimten Katastrophen und nicht aus den im Text eingemotteten Leiden und Freuden gewinnen die Menschen in Frank Castorfs Inszenierung ihre Erregung und ihre Glaubwürdigkeit.

Das gelingt natürlich nur, weil er sich Goethe gegenüber jede Freiheit herausnimmt. Er hat den Montagekünstlern des Dada genau zugesehen: Radikal werden die ehrwürdigen Texte auseinandergenommen und - mit fremdem Material versetzt wieder zusammengebaut. Die kräftigen Anleihen bei Vaudeville und Schwank zahlen sich aus: Die konstruierte, knarrende Dramaturgie der Story gerät in Vergessenheit. Aber auch der Einsatz der volkstümlichen Mittel - Wassereimer und Pistole, Damenringkampf und Entkleidungsszene - erfolgt nach einer genauen Ökonomie: Als Stella ihre tragische Geschichte zum besten gibt und das Porträt ihres treulosen Geliebten enthüllen will, müssen die drei Frauen erst einmal ordentlich Staub wegpusten, sie blasen sich den Dreck gegenseitig ins Gesicht, immer heftiger, immer wütender, Ehefrau, Geliebte, Tochter kämpfen um ein und denselben Mann. Folgerichtig fetzt Stella, als Cäcilia und Luzie das erkennen, die Nebenbuhlerinnen mit Pistolengeballer von der Bühne. Die schönen Seelen haben Zoff. Als Cäcilie dann auf ihren treulosen Gatten trifft, hat der von ihr wie zufällig gerade einen Eimer Putzwasser abgekriegt. Völlig durchnäßt muß er sich entkleiden, frierend steht er herum, ein komischer Wachlappen, kein abenteuernder Kriegsheld. Und sie, mit seinem nassen Hemd und den Hosen in der Hand, rechnet ab, läßt ihn nicht zu Wort kommen, verbündet sich mit dem Publikum gegen den Herumtreiber, der immer die Frau am meisten liebt, die er gerade nicht besitzt. Es ist der Originaltext, aber plötzlich rumoren in ihm Frauenbewegung und Emanzipationskampf, ein ganz und gar realer Schmerz und hinter der Wut - die alte Liebe. Das wiedervereinigte Paar will sich heimlich aus dem Staub machen. Aber auch Stella liebt, und Fernando entdeckt, als sie mit dem halbvollen Putzeimer und zwei einsamen Luftballons um ihn kämpft, daß er sie nicht verlassen kann. Sackgasse, Vollsperrung. Mit einem genialen Einfall erfindet der Regisseur einen Ausweg: plötzlich, in einem absurden Wortspiel ist die Zahl 1794 auf der Bühne, der Diener Karl besteigt die Rampe im Hintergrund und enthüllt eine rote Fahne, die vier vorn intonieren das Solidaritätslied. Aber mitten in der schönsten Vision rollt der Fähndlschwenker sein Tuch wieder ein: Französische Revolution, die Solidarität der Geschlechter im politischen Kampf, 1789/1968/1989, das war einmal und war doch nichts. Zerkochte Kohlköpfe fliegen auf die Bühne, mit ihnen kehren der Mief der Treppenhäuser und das ausgeleierte Ritual der Ehekräche zurück. Der Mann sitzt heulend und greinend in all dem Chaos, das er/sie angerichtet haben und zerschlägt Kohlköpfe auf dem zuvor enthüllten Porträt einer Plastik des Geheimrats Goethe. Rührend-ironisch kümmern sich die Frauen um ihn, alle drei: „Schlaf Bübchen schlaf / ich bin groß und du bist so klein / Schließ deine Augen, bist ja so müd / Mutti gibt Obacht, daß nichts geschieht.“ Es ist klar, daß Castorf beim ursprünglichen, versöhnlichen Stückschluß bleibt und auf das tragische, aber moralisch einwandfreie Ende, das Goethe nach massiven Protesten später erfand, verzichtet: Der Mann wird mit den wiedergefundenen Frauen zusammenleben, er das Kind, sie die Mütter. Aber das Stück ist noch nicht zu Ende. Der Diener Karl hat das letzte Wort, er trägt eine eigenartige Vision vor, einen Text, den der schizophrene Maler Schröder-Sonnenstern am Tag von Hitlers Machtantritt verfaßte: „Ich sehe: Ostern in 7 Jahr, ganz wunderbar / beginnt das große deutsche Jubeljahr! / Die Welt wird staunen und bewundernd schauen / weil auch Zitronen blühn auf Deutschlands Auen. / In 7 Jahren wird es voll erkannt, / warum Germanien der Welt ernannt. / Deutschland wird zur Richtschnur der Nationen / denn der Allerhöchste wird in Deutschland wohnen.“ Da kriegt die nostalgische Revolutionszene, der Thermidor, Robespierres Todesjahr, auf einmal einen ziemlich bedrückenden, einen sehr aktuellen Epilog. Das tragikomische Theater unserer Gefühlsverwirrungen, die unendliche Geschichte unserer privaten Abschiede, Versöhnungen, Trennungen, Wiedervereinigungen, werden so auf einmal zu Schnipseln eines viel größeren Durcheinanders. Der Tanz eines verrückt gewordenen Insektenvolkes.

Hannes Heer

„Stella“ von Johann Wolfgang v. Goethe, Regie: Frank Castorf, Bühne und Kostüme: Hartmut Meyer, Hamburger Schauspielhaus.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen