: Die Hoffnung und die Angst der Juden
■ Der Jüdische Weltkongreß tagte in West-Berlin. In der Wannsee-Villa, wo 1942 die „praktische Durchführung der Endlösung“ beschlossen wurde, gedachten seine Delegierten des 45. Jahrestages des Kriegsendes.
„Was die Deutschen hier auslöschen wollten, war die Geschichte der Juden, was Deutschland hier auf ewig vernichten wollte, war die Erinnerung der Juden.“ Sein Referat hielt Elie Wiesel, der „Chronist des Holocaust“, gestern, am 45. Jahrestag des Kriegsendes, nicht selbst. Es wurde in der Wannsee-Villa, wo am 20. Januar 1942 die „praktische Durchführung der Endlösung“ beschlossen worden war, verlesen. Wie auch andere Teilnehmer des Jüdischen Weltkongresses, der vom Sonntag bis Dienstag in West-Berlin tagte, hatte der Friedensnobelpreisträger eine Einladung zur Teilnahme an der Veranstaltung ausgeschlagen. Die meisten deutschen Männer hätten sich in der Vergangenheit geweigert, zu reden, und sich der Erinnerung verweigert, heißt es in Wiesels Erklärung. „Hier verurteilten hohe deutsche Regierungsbeamte namens ihrer verbrecherischen Führung und im Namen des deutschen Volkes die gesamte jüdische Nation zum Tode und zur Vergessenheit.“ Doch Wannsee bedeute für die Juden auch, daß die Erinnerung stärker sei als ihre Widersacher. „Es bedeutet, daß die Hoffnung der Juden die Angst besiegt hat.“
Im Jüdischen Weltkongreß haben sich jüdische Organisationen, Gemeinden und Einrichtungen von etwa 70 Ländern zusammengeschlossen. Gegründet wurde er 1936 in Genf, dem Sitz des Völkerbundes. Heute ist seine Zentrale in New York. Sein Ziel war und ist es, „das Überleben des jüdischen Volkes zu sichern, sein geistiges, kulturelles und soziales Erbe zu bewahren und die Einigkeit der Juden in aller Welt zu fördern“. Er ist eine von einem Dutzend internationaler und nationaler Organisationen, die in der Dachorganisation der World Conference of Jewish Organizations vereinigt sind.
Hauptanliegen des Jüdischen Weltkongresses sind unter anderen die Verfolgung von Nazi- und Kriegsverbrechen sowie die Bekämpfung neonazistischer Tendenzen in aller Welt. Bereits 1942 hat er den Plan der Nationalsozialisten zur „Endlösung der Judenfrage“ enthüllt. Mitbegründer des Weltkongresses und sein Präsident von 1949 bis 1977 war Nahum Goldmann, der 1982 verstarb. Goldmann, der sich selbst immer als „deutschen Juden“ bezeichnete, hat sein Wirken als „Staatsmann ohne Staat“ in einer Autobiographie festgehalten. Daß der Weltkongreß nach seiner Gründung nicht entschieden genug gegen den Nationalsozialismus gekämpft hat, bezeichnete er als den tragischsten Fehler in der Geschichte der Organisation. Wir haben „hilflos ein Gemetzel über (uns) ergehen lassen“, schrieb er. „Es war eine Prüfung, und wir haben sie nicht bestanden.“ Damals, analysierte Goldmann, als es vielleicht noch möglich gewesen wäre, die Welt gegen die Verfolgung der Juden zu mobilisieren, „verhinderte es die Angst vieler jüdischer Wortführer, eine Kampfstellung gegen Deutschland einzunehmen, solange ihre Regierung noch Freundschaft mit Deutschland hielten“.
Von Goldmann
zu Bronfman
Nahum Goldmann war ein Präsident, von dessen internationaler Reputation der Weltkongreß heute noch lebt. Trotz aller Schrecken der Vergangenheit begründete er mit Konrad Adenauer und David Ben Gurion die „Politik des Dialogs“. Zeit seines Lebens setzte sich Goldmann für eine friedliche Verständigung mit den Arabern ein. Aber er war auch der Präsident, der sich nachsagen lassen muß, daß er mit der Aushandlung der „Wiedergutmachungszahlungen“ in Milliardenhöhe die Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer Schuld fiskalisiert hat.
Der intellektuelle Diskurs im Weltkongreß ist mit der Präsidentschaft Edgar Bronfmans deutlich verflacht. Dessen Eröffnungsrede auf dem Weltkongreß in West-Berlin wurde von den rund 120 Delegierten am Sonntag mit zwiespältigen Gefühlen aufgenommen. „Die Deutschen müssen Israel immer unterstützen (...) Deutschland darf niemals eine Nuklearmacht werden (...) Deutschland darf keine chemischen Waffen oder biologische Kriegsführungskapazitäten besitzen (...) Die Deutschen müssen mit ganzer Kraft und für immer ihren aggressiven Nationalismus über Bord werfen und wahre Europäer werden.“ Solche Worte stießen durchaus auch auf Kritik. Der Weltkongreß, so formulierte es ein sowjetischer Delegierter, dürfe keine Forderungen aufstellen, so wünschenswert sie auch seien, sondern müsse Mahner und Erinnerer sein, das Verhältnis zwischen Deutschen und jüdischem Volk in Anbetracht der neuen Entwicklungen in Osteuropa neu zu definieren.
Am Rande kritisiert wurde auch Heinz Galinski, in Personalunion Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland und Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Berlin. Anlaß für Getuschel, vor allem in der israelischen Delegation, war seine Weigerung, die zweite Jüdische Gemeinde in der DDR, die orthodoxe Adass Jisroel zum Kongreß zuzulassen. Beim Empfang, den gestern nachmittag DDR -Ministerpräsident Lothar de Maiziere dem Weltkongreß in Ost -Berlin gab, konnte Galinski keine Rede halten. Nach Angaben der Herausgeber der unabhängigen jüdischen Zeitschrift 'Semit‘ wäre dies nur möglich gewesen, wenn Adass Jisroel ebenfalls das Rederecht erhalten hätte. Auf diesen Vorschlag de Maizieres habe sich aber Galinski trotz der Vermittlungsversuche des Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in der DDR, Siegmund Rotstein, nicht einlassen wollen.
In West-Berlin und der Bundesrepublik ist Adass Jisroel als selbständige Gemeinde nicht anerkannt - nur deswegen nicht, so ihr Geschäftsführer Mario Offenberg, weil Galinski nicht wollte und nicht wolle. Ein Antrag der Gemeinde zur Aufnahme in den Zentralrat der Juden sei ignoriert worden, ebenso wie die Anmeldung zum Jüdischen Weltkongreß. „Ausgerechnet jetzt, da Adass Jisroel von den ostdeutschen Behörden wiederanerkannt wurde, wird die Gemeinde vom Jüdischen Weltkongreß boykottiert, sagte Vorstandsvorsitzender Gedalia Schreiber.
Anita Kugler
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen