: Westwanderung im Schatten Hitlers und Stalins
Die Zwangsumsiedlung, Verschleppung und Flucht ganzer Völker ist Grundlage für neue Fluchtbewegungen ■ Von Christian Semler
Über die Migration und ihre Probleme im zerfallenden Reich des realen Sozialismus ist schlecht reden ohne deren Ausgangsbedingungen: die Verschleppung und Versklavung ganzer Völker durch den deutschen Faschismus - und den Moloch „Archipel Gulag“. Die nazistischen Zwangsaussiedlungen und die Zwangsarbeit von Millionen Russen, Ukrainern und Polen im Deutschen Reich sind hinreichend dokumentiert, was allerdings für deren Opfer, die immer noch auf Entschädigung warten, ein schwacher Trost ist. Weniger bekannt ist die dem Hitler-Stalin-Pakt folgende Verschleppung Hunderttausender aus dem der Sowjetunion zugeschlagenen Ostpolen und den annektierten baltischen Staaten. Die Rußlanddeutschen an der Wolga und rund ums Schwarze Meer sowie die Krimtataren wurden als mögliche „fünfte Kolonne“ Hitlers nach Sibirien und Innerasien deportiert.
Nach dem Krieg rollte eine zweite Verschleppungswelle Richtung Osten. Ihr fielen nicht nur deutsche und - ein besonders schmachvolles Kapitel - ehemalige russische Kriegsgefangene in Deutschland zum Opfer, sondern auch Teile der deutschen Minderheiten in Ostmitteleuropa. Den aus Polen ausgewiesenen Deutschen folgten nach dem zweiten Weltkrieg einige Millionen Polen, die ihre Heimat östlich des Bug verlassen mußten.
Aber nicht nur die Vertreibung der Polen aus der Sowjetunion und der Deutschen aus Polen zeigten die Umkehr der Ost in die Westdrift der Migration. Die unterdrückten Revolutions- und Reformbewegungen von 1956 und '68 führten jeweils zur Emigration mehrerer hunderttausend Menschen. Im Gegensatz zu den drei Millionen Flüchtlingen aus der SBZ/DDR, deren Spur sich in der Bundesrepublik fast vollständig verlor, stärkten die Fluchtwellen aus Ungarn, der Tschechoslowakei und auch Polen die etablierten ausländischen Kolonien und führten zur Bildung neuer politisch-kultureller Exilzentren.
Seit den siebziger Jahren wurde die Westdrift hauptsächlich von deutschen Minderheiten bestritten. Diese Migration war nicht mehr in erster Linie durch religiöse und politische Diskriminierung bedingt. Sie folgte der ökonomische Krise des Realsozialismus und dem westlichen Wohlstandsversprechen. Schon vorher, seit den späten fünfziger Jahren hatten die Devisentransfers jugoslawische Arbeiter in der BRD und Westeuropa die marode Zahlungsbilanz des Tito-Regimes aufgebessert. Ehe die jungen Arbeiter aus dem Kosovo nach Slowenien und Kroatien strömten, vermehrten schon ihre Väter den Reichtum von AEG und Osram in West -Berlin.
Der Zusammenbruch der polnischen Ökonomie Ende der siebziger Jahre brachte dann einen neuen Typus der Migration hervor - die Zeitarbeit im Rahmen der „Second Economy“. 1989 erteilte die deutsche Botschaft in Warschau über 700.000 Sichtvermerke für polnische Touristen. Dem standen ganze 10.500 Visa mit Arbeitserlaubnis - in der Regel für die Weinernte - gegenüber. Polens Arbeitsminister Jacek Kuron schätzte die Zahl der Schwarzarbeiter für das gleiche Jahr auf 600.000 bis eine Million. Die Deviseneinnahmen dienen nicht in erster Linie dem eigenen Konsum.
In der BRD und - unter Ausnutzung der Preissubventionen in der DDR und der CSFR gekaufte Waren werden in Polen und dem übrigen Osteuropa mit großen Gewinnmargen im ambulanten Handel verkauft. Die neu entstehende Mittelklasse in Polen, zum Teil auch in Ungarn, bildet sich auf der Basis dieser „ursprünglichen Akkumulation“. Deren pschologische und politische Auswirkungen sind in Osteuropa und der Sowjetunion schon jetzt spürbar. Rigorose Ausfuhrbeschränkungen werden zur Regel. Ganze Völker, in erster Linie die Polen, werden als betrügerische Händler diffamiert.
Vier Jahrzehnte lang waren die Völker des „Ostblocks“ der Ideologie des sozialistischen Internationalismus zum Trotz voneinander abgeschottet. Nationalismus und Haß gegen die Minderheiten sollten die schwankenden realsozialistischen Machteliten stützen und das Vakuum ersetzen, das die sterbende kommunistische Ideologie hinterließ. Zehntausende Ungarn flüchteten in den beiden letzten Jahren der Herrschaft Ceausescus aus Rumänien. Um der Zwangsassimilierung zu entgehen, emigrierten über 300.000 Moslems - überwiegend türkischer, aber auch bulgarischer Herkunft in die Türkei, obwohl sie dort elende Lebensverhältnisse erwarteten.
Der demokratische Umbruch in Osteuropa und der Sowjetunion hat jetzt die Möglichkeit geschaffen, ethnische Konflikte zu entschärfen. Die Sowjetunion hat der jüdischen Emigration das Tor geöffnet, Tschechen und Slowaken, die CSFR und Ungarn haben ihre nationalen und Minderheitenprobleme im Prinzip gelöst. Um so gefährlicher entwickelt sich die Lage dort, wo Dialog und Kompromiß als Werkzeuge demokratischer Lösungen nicht greifen. Was wird geschehen, wenn die Ungarn Siebenbürgens zur Zielscheibe eines entfesselten rumänischen Nationalismus werden, wenn die Nationalismen in Jugoslawien sich „ethnisch“ voneinander abgrenzen, wenn in Rußland chauvinistische und panslawistische Tendenzen das Übergewicht gewinnen? Es bedarf keiner großen Phantasie, um neue, politisch motivierte Massenmigrationen vorauszusagen.
Die Folgen dieses neuen Nationalismus werden sich mit den Folgen der ökonomischen Misere treffen, die jetzt überall im ehemaligen „Ostblock“ offen zutage liegt. Angesichts eines möglichen doppelten Ansturms politischer und ökonomisch verursachter Migration wäre es für die Westeuropäer natürlich am einfachsten, die Zugbrücke hochzuziehen und die ganze Region unter Beibehaltung der europäischen Phraseologie auf das Niveau der Dritten Welt absinken zu lassen. Genau das passiert im Augenblick, wird die EG -Europäer aber keineswegs davor bewahren, in den Sog der „östlichen Konvulsionen“ zu geraten.
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