: Auf dem Weg zur großen Freiheit
Wattenscheid überrennt Hertha 5:1 und klettert, hämisch in Richtung Bochum grinsend, rauf in die erste Liga ■ Aus Wattenscheid Ernst Thoman
„Die wollen uns fertigmachen, die Bochumer“, grollt Anni Kleinhoff, zapft emsig die Biere und stellt sie in langen Kolonnen auf die Theke. Aber Annis Augen tragen in dieser Nacht überwiegend den Aufstiegsschimmer.
Anni, mit 68 Jahren Vereinswirtin der Wattenscheider Fanszene, tanzt in den Zapfpausen auf dem Hocker. „Das Ordnungsamt hat uns die Sperrstunde nur bis drei Uhr verlängert“, schimpft sie über den Magistrat in Bochum -Mitte. „Aber die schaffen uns nicht, diese Bochumer“, erhebt sich Anni über die amtliche Auflage. Denn ihre Kneipe hat einen Namen, und der heißt: „Freiheitsschänke“.
Will man die Annäherung an den letzten weißen Fleck im bezahlten Fußball versuchen, dann stehen der Wirtin trotzige Sätze wie ein Symbol für zwei Träume in ganz Wattenscheid. Der erste und geringere ging am Donnerstag in Erfüllung. Mit 4:0 schickte die graueste aller Zweitligamäuse, vom Modemilliardär Klaus Steilmann in feinstes Tuch gesteckt, die bereits aufgestiegene Hertha in die Halbzeit.
Lange zuvor hatte Hertha-Coach Werner Fuchs seine Schreie von der Bank („Spielt doch endlich Fußball“) aufgegeben. Nach 25 Minuten und zwei Freistößen führte Wattenscheid mit 2:0. Zweimal wackelte die Berliner Mauer bei den Schüssen von Jörg Bach (abgefälscht) und Harry Kügler (abgeprallt). Der Rest ging unter im Singsang der bierseligen Fans. Mucki Banach, ein Filigranstürmer mit zur Hälfte südfranzösischem Blut und bald für den 1. FC Köln dribbelnd, traf zweimal, ließ gar mit seinem 3:0 den legendären spanischen Emmerich -Treffer von Wembley auferstehen. Theo Gries durfte für Hertha, ganz im end-saisonalen Auslauftraining befindlich, ein Tor treten, bevor Wattenscheids Käpt'n zum fünften traf.
Da waren die Fans längst aus dem Häuschen und über den Zaun, Wattenscheid in der Bundesliga. „Viele haben uns das nicht zugetraut. Aber ich wußte schon lange, daß wir aufsteigen“, spielte hernach Trainer Bongartz sektbegossen und süffisant auf die Vorurteile gegenüber seiner Miniatur -Werksmannschaft an.
Wattenscheid als ein Plastik-Klub aus der Retorte, ein Klein-Leverkusen, freigehalten aus der Brieftasche von Europas größtem Damenoberbekleider? Ganz falsch, bis auf das Geld von Klaus Steilmann. „Ich spinne nicht“, sagte der Modemulti im Moment des Triumphs, nach zwanzig Jahren der Zweitklassigkeit. Bongartz, vor 19 Jahren mit dem ersten Profivertrag in Wattenscheid angefangen als dürrer Spargeltarzan, mit nur sechs Länderspielen in den Siebzigern immer im Schatten von Overath und Netzer, ergänzt: „Er könnte für 30 Millionen kaufen.“ Das wird er nicht, der Herr Steilmann. Wattenscheid wird kein Revier-Neapel inmitten der traditionellen Riesen in Dortmund und Schalke.
Die Uhr am Kirchturm von Prälat Mikus, immer auf der 800 -Plätze-Tribüne in dem Stadion mit einer Damentoilette (36 verkaufte Dauerkarten), wird weiß Gott nicht anders ticken. Im VIP-Raum, diesem Kontakthof für sehr wichtige Leute, werden weiterhin die Fans mit ihren schwarz-weißen Kutten Einlaß finden. Donnerstag abend durften sie gar mit ihren Idolen ins Ermüdungsbecken tauchen.
Mäzen Steilmann (60) wird weiter Schafskopf zocken und bei den alten Herren mitspielen. Über hundert Tore hat er diese Saison geschossen, die meisten Vorlagen kamen von Hannes Bongartz. Der könnte sofort einen Rentenvertrag wie Otto Rehhagel in Bremen annehmen. Macht er aber nicht: „Ich muß nur gehorchen, wenn der Big Boß sagt, du spielst heute abend bei den alten Herren.“
Kleine Freiheiten in Wattenscheid, das vielleicht im ersten Jahr der Bundesliga ein St. Pauli mit bürgerlichen Vorzeichen inszeniert. Sicher dann, wenn der zweite Traum des zwangseingemeindeten Erstligisten reifen sollte: die Befreiung von Bochum. „Hände weg von Wattenscheid“, klebt dieser Tage überall im Ort. Seit 15 Jahren fühlten sie sich zur kommunalpolitischen Postleitzahl des Bochumer Oberzentrums degradiert. Anni Kleinhoff freut sich deshalb diebisch über die Abstiegsnöte des VfL: „Aber richtig glücklich sind wir erst, wenn wir wieder frei sind.“ WATTENSCHEID: Eilenberger - Neuhaus - Emmerling, Bach, Sobich - Jankovic (81. Buckmeier), Hartmann, Fink, Kügler Tschiskale (71. Langbein), Banach.
HERTHA: Junghans - Greiser - Niebel (46. Zernicke), Halvorsen, Holzer - Mischke, Patzke, Klaus (46. Unglaube), Kretschmer - Gries, Gowitzke.
Zuschauer: 7.000
Tore: 1:0 Bach (11.), 2:0 Kügler (25.), 3:0 Banach (33.), 4:0 Banach (44.), 4:1 Gries (56.), 5:1 Tschiskale (67.)
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