Eklat vor der letzten Verhandlungsrunde

Der Bericht des DDR-Chefunterhändlers zum Staatsvertrag brachte die Opposition in der Volkskammer auf die Palme und Finanzminister Romberg in Verlegenheit / De Maiziere unterstützte seinen Staatssekretär / Wesentliche Aspekte des Staatsvertrags sind weiter strittig  ■  Aus Berlin Matthias Geis

Finanzminister Walter Romberg war fassungslos. Da hatte der DDR-Verhandlungsführer in Bonn, Staatssekretär Krause, gerade vor der Volkskammer ein Katastrophenszenario der Finanz- und Wirtschaftssituation des Landes mit detaillierten Zahlen aus dem Finanzministerium untermauert, die der zuständige Minister nie gesehen hatte. Walter Romberg hielt es nicht länger auf seinem Ministersessel. Während er, noch zur Parlamentspräsidentin gewandt, um Rederecht bat, schob er schon den vorher höchst selbstsicheren, jetzt etwas verdatterten Staatssekretär vom Rednerpult: „Ich muß schon meinem Erstaunen Ausdruck geben, daß im Rahmen einer Koalition bei einer so entscheidenden Erklärung, die ja die Verhandlungen mit der Bundesrepublik begründet, hier vorher keine Abstimmung stattgefunden hat.“

-Die Aktuelle Stunde zum Stand der Staatsvertragsverhandlungen hatte ihren Eklat, der dann im erfolglosen Mißtrauensantrag von Bündnis 90 und Grünen gegen den DDR-Chefunterhändler gipfelte.

Die Szene am Donnerstag abend im Palast der Republik wirft ein Schlaglicht auf das Maß an Geheimdiplomatie, mit der die Schlußrunde der Staatsvertragsverhandlungen in Bonn geführt wird. Daß die DDR-Seite dabei offensichtlich mit Zahlen agiert, die selbst innerhalb des Ministerrates bislang unbekannt waren, hat weitreichende Konsequenzen. Denn Krause hatte in seinem Volkskammerbericht immer wieder durchscheinen lassen, daß er aufgrund „seiner“ Zahlen zur Wirtschafts- und Finanzsituation der DDR alle weiteren Forderungen an die Bundesrepublik im Rahmen des Staatsvertrages für unangemessen halte.

Krause agierte bei seinem Bericht eher als Parteipolitiker, der der SED-Nachfolgerin das von ihr verschuldete Ausmaß des Ruins vorführen wollte, denn als Verhandlungsführer, der das Maximum des Erreichbaren für sein Land und dessen Bevölkerung aushandeln will. So konnte seine dem Parlament vorgestellte Prioritätenliste kaum mehr überraschen: Als erstes - so Krause im Einklang mit Bonn - gelte es, die Stabilität der D-Mark durch die Vereinbarungen nicht zu gefährden, zum zweiten müsse eine klare Weichenstellung in Richtung Marktwirtschaft festgelegt wereden. Erst als dritten Punkt nannte Krause die soziale Abfederung der Währungsunion.

Daß Krauses Verhandlungsstrategie die volle Unterstützung von de Maiziere genießt, wurde an der Behandlung des Mißtrauensantrags deutlich. Der Ministerpräsident, der allenthalben für seine sozialdemokratisch inspirierten Beiträge gelobt wird, stützte Krause, nannte dessen Zahlenwerk korrekt und führte den Protest des zuständigen Ministers auf Probleme im Finanzministerium zurück. Die DDR stehe vor der schwersten Krise ihrer Geschichte. Immerhin und das war die einzige moderate Kritik des Ministerpräsidenten - käme es jetzt darauf an, den Situationsbeschreibungen den „Beigeschmack der Katastrophe“ zu nehmen.

Am katastrophischen Beigeschmack jedoch mangelte es Krauses Bericht an keiner Stelle: Die Verschuldung der DDR werde bis Ende nächsten Jahres auf 120 Milliarden D-Mark ansteigen; die Verbindlichkeiten bei westlichen Banken belaufen sich auf mindestens 18 Milliarden Dollar. Während bislang die laufende Produktion mit 175 Milliarden Mark jährlich finanziert worden sei, wurden nur 85 Milliarden jährlich für Investitionen aufgewandt; so seien nach der Währungsunion 14 Prozent der Betriebe konkursgefährdet, 54 Prozent könnten nur mit staatlicher Unterstützung den Einstieg in die Marktwirtschaft verkraften. 1,5 Millionen Beschäftigte müßten bis Ende 91 mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes rechnen.

Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen, fiel es Krause denn auch schwer, einigen im hohen Hause eine „entscheidende Aussage im Kontext dieser Ausführungen“ glaubhaft zu machen: Für keinen Bürger in der DDR könne es in Zukunft schlechter werden.

Gestern verhandelte Krause wieder in Bonn, wo die letzte Runde der Expertengepräche zum Staatsvertrag begonnen hat. Am Montag soll der Entwurf den beiden Parlamenten vorgelegt werden. Als noch strittige Punkte hatte Krause vor der Volkskammer die Rentenberechnungsformel, die Behandlung der Staatsschulden der DDR nach der Vereinigung sowie die Größenordnung von Strukturhilfemaßnahmen für die bedrohten Wirtschaftszweige benannt. Die in den Koalitionsvereinbarungen vorgesehene Unterbindung von Grunderwerb für Gebietsfremde, die in Bonn bislang vehement abgelehnt worden war, soll, so Krause, nicht Gegenstand des Vertrages werden.

Demgegenüber nannte Exstaatssekretär Tietmeyer, der für Bonn die Verhandlungen führt, die Eigentumsfrage, die Stationierungskosten für die sowjetischen Truppen sowie die Kosten der Strukturanpassung der DDR-Wirtschaft als ungelöst.

Offen sind auch noch Modalitäten der Sozialunion, die, so Tietmeyer, in der Regierungskoalition in Berlin umstritten sind. Die DDR-SPD plädiert nach wie vor für die Einführung einer Mindestrente, die laut Bonner Einschätzung allerdings nicht zum Rentensystem der Bundesrepublik paßt. Umstritten sind weiterhin die Beitragsregelungen. Während Bonn umgehend die bundesdeutschen Beitragssätze einführen möchte, besteht zumindest die DDR-SPD auf einer schrittweisen Anpassung. Außerdem will sie alle bestehenden Sozialleistungen auch nach der Währungsunion erhalten wissen.

Selbst wenn alle strittigen Punkte am Wochenende geklärt werden können, scheint der Vertrag auch dann noch nicht endgültig unter Dach und Fach. Wohl aufgrund der Volkskammerausführungen von Krause zeigte sich die Bundesregierung gestern verunsichert: Nach der Einigung über den Vertrag werde sich Finanzminister Waigel noch einmal in Ost-Berlin sachkundig machen - über die Finanzsituation der DDR.