Stoppt Niedersachsen Kohls Deutschlandpolitik?

■ Ein Drittel aller Bundesbürger ist morgen zum Urnengang aufgerufen. Während bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen der christdemokratische Herausforderer Norbert Blüm den Sieg des Sozialdemokraten Johannes Rau wohl nicht verhindern wird, ist in Niedersachsen der Ausgang des Rennens offen. Falls die CDU durchfällt und Schröders SPD mit den Grünen koaliert, werden die Bonner Regierungsparteien sogar die Mehrheit im Bundesrat verlieren. Kohls Durchmarsch in der Deutschlandpolitik könnte zumindest gebrmst werden.

Helmut Kohl mahnt zur Vorsicht - aus durchsichtigen Gründen. Die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen seien in „keinster Weise vorentscheidend für die Bundestagswahlen“. Tatsächlich scheint in NRW eine Bestätigung des SPD-Ministerpräsidenten sicher zu sein, an einen CDU-Sieg glaubt niemand, Johannes Rau könnte höchstens auf einen kleinen Koalitionspartner angewiesen sein. Völlig ungewiß hingegen die Aussichten von Albrechts CDU in Niedersachsen: Trotz des Einsatzes von Rita Süssmuth, trotz der Niederlagen der SPD in zwei DDR-Wahlen hat sich der niedersächsische Wahlkampf in den letzten vier Wochen wieder zu einem völlig offenen Kopf-an-Kopf-Rennen entwickelt. Die Demoskopen trauen sich keine gesicherten Prognosen mehr zu. Je nach Auftraggeber liegt bei den Umfragen mal Rot-grün und mal die jetzige CDU/FDP-Koalition vorn. In Niedersachsen werden SPD und Grüne die Mehrheit der CDU im Bundesrat vielleicht kippen. „Ich weiß, daß die Sozialdemokraten das wollen“, knurrte Helmut Kohl nur grimmig, als er im Wahlkampf mit dieser Aussicht konfrontiert wurde, die seine gesamte Deutschlandpolitik durcheinanderwürfeln könnte. Bei der Niedersachsenwahl müsse die SPD dafür sorgen, daß „Helmut Kohl die deutsche Einheit nicht mehr wie seine Privatsache behandeln kann“, meinte Willy Brandt am Dienstag vor 1.500 Zuhörern in Hannover.

Gerhard Schröder, der auf keinen Fall wieder SPD -Oppositionsführer im niedersächsischen Landtag werden will, verkündete stolz, seine Partei habe in den letzten vier Wahlkampfwochen den „Durchhänger überwunden“, in den sie nach dem DDR-Wahlergebnis im März geraten war. Die SPD habe den anderen Parteien auch eigene Wahlkampfthemen aufzwingen können wie die „gerechte Verteilung der Kosten der deutschen Einheit“ und die Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik in Niedersachsen.

Die grüne Spitzenkandidatin Thea Dückert verwies auf den „grünen Aktionswahlkampf“ - die Blockade einer Müllverbrennungsanlage oder die Aktionen zum Tschernobyl-Tag etwa -, der viel Anklang gefunden habe. Die Wähler hätten „die Schnauze voll“ von der inhaltsleeren Selbstdarstellung in staatsmännischer Pose, in der sich Gerhard Schröder und Ernst Albrecht durch nichts unterschieden hätten. In der Tat vermochten in den wenigen Fernsehdiskussionen nur die grünen Spitzenkandidaten durch beherzte und qualifizierte Angriffe auf Ernst Albrecht und den FDP-Spitzenkandidaten Walter Hirche zu glänzen.

„Ätzend langweilig und ohne Wahlkampfthema“, so charakterisierte allerdings schon tags zuvor der grüne Landtagsabgeordnete Hannes Kempmann das, was die niedersächsischen Parteien den Niedersachsen in den letzten Wochen geboten haben.

Anders ist es in Nordrhein-Westfalen. Dort hat es CDU -Spitzenkandidat Norbert Blüm über eine mal aggressive, mal witzig-demagogische Kampagne geschafft, so etwas wie Wahlkampffieber zu entfachen und seine jahrelang vor sich hin dümpelnde Landespartei aufzuwecken. Am Dienstag abend in der Bochumer Ruhrlandhalle, wo Blüm zusammen mit Kohl auftrat, wurde dieser Wandel augenfällig. Am selben Ort, an dem der CDU-Wahlkampfauftakt vor fünf Jahren das Flair einer Beerdigungsfeier ausstrahlte, geriet das Publikum förmlich aus dem Häuschen. Als Blüm versprach, den „sozialistischen Mief“ aus NRW zu vertreiben, als er seinen „Stolz“ verkündete, „ein Deutscher zu sein oder über die „bildungspolitischen Geisterfahrer“ der SPD herzog, da wollte der Jubel nicht enden. Vergleichbare Szenen gab es im Wahlkampf anderer Parteien nicht. Blüm setzte ganz auf die Deutschlandpolitik der Union und führte - fast wie ein religiöser Eiferer - einen antisozialistischen Feldzug, wobei bis zum Attentat in Köln Lafontaine, nicht Johannes Rau, im Ziel seiner schärfsten Attacken stand. Sein Wahlkampf, so lobte selbst Kanzler Kohl, sei „die beste Kampagne seit 1975 , als die CDU 47,1% erzielte.

Im deutlichen Gegensatz zu dieser Stimmung stehen allerdings die Prognosen. Ganze 36 Prozent sagt Infas den Christdemokraten, die ihren Wahlkampf unter dem Motto „Der Sozialismus geht, wir kommen“ geführt haben, für morgen voraus. Sollte es so kommen, könnte sich SPD-Wahlkampfleiter Bodo Hombach erneut bestätigt fühlen, der den CDU-Wahlkampf als eine „Beglückungsorgie für Stammwähler charakterisierte. Der SPD-Wahlkampf setzte im deutlichen Kontrast zu den lauten Blüm-Tönen ganz auf das Landesvaterimage von Johannes Rau. Wie gewohnt verzichtete Rau auf jede ideologische Überhöhung und Zuspitzung, wie gewohnt wich er unangenehmen Fragen und Themen geschickt aus. Die SPD-Kampagne zielte vor allem auf die parteilich nur schwach gebundenen Wählergruppen. In den SPD-Werbespots traten Menschen auf, die sich zur Politik Helmut Kohls bekannten, dann aber versicherten, „daß ich diesmal in Nordrhein-Westfalen den Rau wähle“. An Rhein und Ruhr wurden jene Sozis, denen der Sinn nach Polarisierung, nach sozialdemokratischer Identitätsstiftung steht, eher durch Blüm denn durch den eigenen Wahlkampf mobilisiert.

Trotz fader SPD-Wahlkampfveranstaltungen scheint jedoch das Konzept der Sozialdemokraten in Düsseldorf aufzugehen: Die Infas-Prognose sieht die SPD bei 50 Prozent, die FDP bei 7 Prozent und die Grünen nur bei gut vier Prozent. Die grünen Landesverbände in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen sind zwar beide zu einer Koalition mit den Sozialdemokraten bereit. Doch selbst wenn die SPD an Rhein und Ruhr die absolute Mehrheit verliert, wird es dort keine rot-grüne Koalition geben. Johannes Rau hat hinlänglich klargemacht, daß er für eine Koalition mit den Grünen nicht zu haben ist. Außerdem steht in NRW im Zweifelsfall die FDP für die Rolle des Mehrheitsbeschaffers zur Verfügung.

Anders und weitaus spannender die Situation in Niedersachsen: Falls dort die CDU/FDP-Koalition die Mehrheit verliert, will der SPD-Spitzenkandidat Gerhard Schröder sowohl den Grünen als auch der FDP Koalitionsverhandlungen anbieten. „Für uns ist wichtig, daß wir dann nicht eine, sondern zwei Optionen haben, die wir auch zu nutzen wissen werden“, sagt Gerhard Schröder. Bei dem zu erwartetenden knappen Wahlergebnis wird allerdings der Wähler die Koalitionsfrage wohl gleich mitentscheiden und so der SPD den drohenden innerparteilichen Streit über Rot-grün oder Sozialliberal ersparen. In Hannover ist unvergessen, daß Ernst Albrecht einst mit Überläuferstimmen an die Macht kam, daß 1988 beim konstruktiven Mißtrauensvotum Gerhard Schröder eine Stimme aus den eigenen Reihen fehlte. Wenn es denn für Schröder reicht, wird sich die SPD der kleineren Partei zuwenden müssen, die die meisten Landtagssitze in eine Koalition einbringen kann.

Das Wahlziel der niedersächsischen Grünen lautet daher, „wieder drittstärkste Partei im Landtag zu werden“. Nur dann hat Rot-grün eine Chance, sagt der Fraktionsvorsitzende der Grünen, Jürgen Trittin. Für ihn ist Rot-grün weiterhin die „einzige Möglichkeit, die Regierung Albrecht abzulösen“. Wenn die FDP hinzugewinnt und uns überrundet, dann reicht es auch weiter für die bisherige Regierungskoaliton, sagt Jürgen Trittin. Zur Zeit verfügen die Grünen im Landtag über elf, die Freidemokraten über neun Sitze. Der niedersächsische SPD-Spitzenkandidat hofierte allerdings öffentlich ausschließlich die Freidemokraten, schließlich hatte die CDU nicht zuletzt aufgrund ihrer Anti-Rot-grün -Kampagne die letzte Landtagswahl im Jahre 1986 knapp gewinnen können. Die niedersächsischen Freidemokraten beteuern natürlich, daß sie lediglich zu einer Koalition mit der CDU zur Verfügung stehen.

Die letzte Umfrage des Forsa-Institutes prognostiziert ein ungefähres Patt zwischen der Regierungskoalition auf der einen Seite und Rot-grün auf der anderen Seite. Die SPD liegt danach mit 43% knapp vor der CDU mit 42%, die FDP mit 7% genau ein Prozent vor den Grünen. Unklar ist, ob die unzufriedenen Bauern und Wähler, die bisher Anhänger der Reps waren, nicht lieber zu Hause bleiben, statt wie noch 1986 wieder der CDU die Stimme zu geben. Noch immer gültig bleibt allerdings die Aussage der Grünen-Spitzenkandidatin Thea Dückert, wonach die Mehrheit der Bonner Koalition im Bundesrat nur über Rot-grün in Niedersachsen wirklich zu kippen ist. Wenn in einer künftigen niedersächsischen Landesregierung keine der Bonner Koalitionsparteien, weder die CDU noch die FDP, vertreten ist, dann kann der morgige 13. Mai via Bundesrat auch zu einem Wendepunkt für die bisher von der Bundesregierung im Alleingang durchgesetzte Deutschlandpolitik werden.

Jürgen Voges