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„Kinder als Schachfiguren?“

■ Beim Obersten Gericht der DDR wird seit gestern die Schändung des Jüdischen Friedhofs 1988 wieder verhandelt / Der Tenor der heutigen Verhandlung: Den jugendlichen Tätern wurde vom Staat ein antifaschistischer Schauprozeß gemacht

Ost-Berlin. Über zwei Jahre ist es her, da verwüsteten fünf betrunkene Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren den Jüdischen Friedhof in der Schönhauser Allee. 198 Grabsteine wurden umgeschmissen und beschädigt, das Entsetzen über diese Tat war groß. Im Juli 1988 wurden die fünf verurteilt. Die Strafen waren hart. FrankL., als Anführer beschuldigt, erhielt sechseinhalb Jahre, die anderen zwischen fünfeinhalb und zweieinhalb Jahren Jugendgefängnis. Gestern befaßte sich das Oberste Gericht der DDR in einem „Kassationsverfahren“ erneut mit den verhängten Urteilen. Wohlgemerkt, es ist kein Wiederaufnahmeverfahren, in dem die individuelle Schuld der Randalierer neu untersucht wird, sondern Absicht ist es, die Urteile zu „kassieren“ und neu festzusetzen. Die Eltern der Jugendlichen, der evangelische Stadtjugendpfarrer Hülsemann und Salomea Genin aus der Jüdischen Gemeinde, hatten zuvor in einer gemeinsamen Erklärung gefordert, daß es bei dieser Verhandlung nicht reicht, nur die Strafhöhen herabzusetzen. Zur Sprache kommen müßte auch, daß an den Jugendlichen begangene „staatliche Unrecht“, die Meinungsunterdrückung in der Schule, das Klima einer Gesellschaft, die auf Monolog setzte und nicht auf Dialog - und überhaupt: Gegenstand der gesamten Verhandlung müßte die exerzierte politische Prozeßführung sein.

Der Prozeß 1988, kurz vor den landesweiten Feierlichkeiten zum Gedenken an die Novemberpogrome an den Juden 1938, schrieben sie, sei keiner gewesen, sondern ein Tribunal, ein „Schauprozeß“. Die damaligen politischen Machthaber hätten „die Kinder als Schachfiguren benutzt (...) um das Scheitern des in der DDR verordneten Antifaschismus zu verstecken“. In der Presse seien sie als vom Westen beeinflußte Skins dargestellt worden, denn beweisen wollte man, daß es auf dem Boden der DDR keinen eigenen Nazismus gäbe. Daß der damalige Prozeß politisch geführt wurde, bestätigte kürzlich auch der damalige Staatsanwalt und heutige Generalstaatsanwalt für Ost-Berlin, Klaus Voß. Er habe „auf Weisung gehandelt“ erklärte er im Februar. Voß hat umgelernt. In dem Kassationsantrag der DDR-Generalstaatsanwaltschaft ist von einer „gröblich unrichtigen Strafzumessung“ die Rede. Die „Gesellschaftsgefährlichkeit“ sei überbewertet worden.

Vier der fünf Jugendlichen nahmen an der gestrigen Verhandlung teil, ihre Strafe war am 12. März zur Bewährung ausgesetzt worden. Relativ unbeteiligt hörten sie den Ausführungen des Staatsanwaltes Stefanski zu. Die Strafen wären 1988 zu hoch gewesen, hörten sie, die Urteile hätten vor allem eines verhindert, nämlich die rationale Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld. Stefanski plädierte dafür, in einem neuen Schuldspruch die Strafen zwischen vier und einem Jahr neu festzusetzen. Auch der Verteidiger der Jugendlichen, Franz, bemühte sich peinlichst, das damalige politische Klima nicht in den Mittelpunkt zu stellen.

Sichtbar ist das Bemühen aller Prozeßbeteiligten, Gras über den Schauprozeß wachsen zu lassen. Gesucht wurde auch nicht nach den individuellen oder gesellschaftlichen Ursachen der emotionalen Verwilderung der Jugendlichen, noch weniger gefragt wurde nach den psychischen Schäden der Jugendlichen, die im Vorfeld des Prozesses von der Staatsicherheit wie Schwerverbrecher behandelt worden waren. Ihre Abschlußstatements klangen wie eingelernt und unisono: „Nein, ich war und bin kein Nazi, die Schuld sehe ich ein, die Strafe ist aber zu hoch.“ Die Urteile sollen heute verkündet werden.

aku

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