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Das Herrlichste in seiner Entartung?

Oberster Sowjet verabschiedet ein Gesetz gegen verleumderische Kritik am sowjetischem Präsidenten / Wer Gorbatschow beleidigt, dem drohen bis zu sechs Jahre Haft / Gesetzesgegner befürchten Verfolgung unliebsamer BürgerInnen  ■  Aus Moskau K. H. Donath

Schon die Antike thematisierte das produktive Spannungsverhältnis zwischen der Unvollendetheit des Menschen und seinem Streben nach Selbstvollendung. Erkenntniskraft und Tugendhaftigkeit schließen in der antiken Philosophie immer auch die Möglichkeit des Irrtums und des Lasters ein. Ein noch so außergewöhnlicher Mensch kann sich bis zum deus mortalis erheben, aber „das Herrlichste ist in seiner Entartung das Abscheulichste“, warnte schon Aristoteles. An Beispielen daran fehlt es auch in der sowjetischen Geschichte nicht. Um so erstaunlicher daher ist das Gesetz „zum Schutz der Ehre und Würde des Präsidenten“, das der Oberste Sowjet am Montag verabschiedete. Danach können Beleididigung oder Verleumdung des Präsidenten mit einer Geldbuße bis zu 3.000 Rubeln (der Durchschnittsverdienst liegt bei 250 Rubel), zwei Jahren Arbeitslager oder wahlweise bis zu drei Jahren Zuchthaus geahndet werden. Sollten solche unschönen Töne gar veröffentlicht werden, hat der Delinquent mit sechs Jahren Gefängnis oder zwei Jahren Arbeitslager zu rechnen. Rundfunkanstalten, TV-Sender oder Zeitungen, die solches Material verbreiten, können sogar geschlossen werden. Im günstigsten Fall müssen sie eine Geldstrafe bis zu 25.000 Rubeln zahlen. Wenig beruhigend dürfte es für die BürgerInnen sein, daß einfache Kritik am Präsidenten oder seiner Politik nicht mit Beleidigung oder mit Verleumdung gleichgesetzt und automatisch strafrechtlich verfolgt werden sollen. Noch ist nämlich nicht klar, wo das Gesetz die Grenze zwischen Kritik und Beleidigung ziehen wird.

Spekuliert wird in Moskau darüber, ob diese Gesetzesinitiative auf die harsche Kritik am Präsidenten während der Demonstration am 1. Mai zurückzuführen ist oder schon länger vorbereitet wurde. Sollte das Gesetz aber wirklich eine Folge der Proteste sein, so wäre die Schnelligkeit, mit der diese Initiative ergriffen wurde, einmalig in der Geschichte des Obersten Sowjet, dem man nicht gerade Zügigkeit in seiner gesetzgeberischen Arbeit nachsagen kann.

Mit den Geistern, die er rief, tut sich Gorbatschow schwer. Kritik an seiner Person erträgt er nur höchst widerwillig. SowjetbürgerInnen wundern sich, warum der Präsident auf die Anwürfe der DemonstrantInnen nicht gelassener reagieren konnte. Den Auftritt von einigen Unzufriedenen auf dem Roten Platz hätte er souverän als einen Erfolg seiner Politik werten können. Stattdessen zog er wie eine beleidigte Leberwurst von dannen. Angesichts der Machtfülle des Präsidenten ist die Frage nach seinem persönlichen Psychogramm heute nicht mehr zweitrangig und erklärt sich die Bestürzung, mit der viele in der UdSSR daher auf das neue Gesetz reagieren. Viele befürchten, daß das neue Gesetz die Möglichkeit bietet, unliebsame BürgerInnen zu verfolgen. Wie wird der Präsident handeln, wenn die Lage im Lande sich noch weiter zuspitzt? Geht es in der Sowjetunion wirklich nicht ohne eine von jeglicher Kritik ausgenommene, gottgleiche Führung? Alle hier wissen nur allzu gut, was Aristoteles damit meinte: „Das Herrlichste ist in seiner Entartung das Abscheulichste.“

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