: Frankreich trägt den gelben Stern
Hundertausende in Paris beim Schweigemarsch / Nach Carpentras die größte Demonstration gegen Antisemistimus in der Geschichte Frankreichs ■ Aus Paris A. Smoltczyk
Die Bronzereliefs am Fuße der „Republique“, auf denen die großen Momente der Nation erzählt werden, sind abgenommen zur Restauration, weil die republikanischen Sternstunden in den letzten Jahren etwas Patina angesetzt hatten. Aber am Montag abend konnte Paris auf gloire verzichten: Mehrere hunderttausend Menschen demonstrierten in einem Schweigemarsch ihre Solidarität mit der jüdischen Gemeinde Frankreichs nach der Friedhofsschändung von Carpentras - die größte Solidarisierung des Landes mit seinen jüdischen Bürgern in der Geschichte.
Vor den kahlen Granitflächen des Standbilds sehen einige Rentner zu, wie sich die Place de la Republique langsam füllt. „Das war zuviel. Wie können wir in einem Land leben, wo nicht einmal die Toten in Ruhe gelassen werden?“ fragt eine Frau. Etwas weiter ruft ein Senegalese aufgeregt: „Wir alle sind Rassisten. Jeder...“ - „Ich nicht“, entgegnet schlicht ein älterer, sehr korrekt gekleideter Herr, „ich habe zu sehr darunter leiden müssen. So etwas darf es nie mehr geben.“ - „Wird es auch nicht“, sagt ein dritter, „Hitler war stärker als Le Pen. Und hat es nicht geschafft. Wir sind ja noch da.“ Und diesmal nicht alleine.
Zum ersten Mal seit der liberation ist es nicht ein Frankreich, das gegen ein anderes Frankreich demonstriert, sondern das Frankreich, das auf die Straße gegangen ist. Und zum ersten Mal seit 1944 gemeinsam mit seinem Staatschef. Fran?ois Mitterrand läuft in der Mitte des Zuges, etwas weiter vorne zeigen sich Jacques Chirac, Georges Marchais, Michel Rocard und alle seine Minister. Nur Le Pen wird lediglich als wächserner Popanz mitgetragen.
Der Platz quillt über von Menschen. Die Geschäfte des Schneiderviertels ringsum haben ihre Gitter heruntergelassen: „Geschlossen wegen Friedhofsschändung“. Viele sind mit den Vorortzügen aus Sarcelles gekommen oder zu Fuß aus dem Marais und Belleville, den jüdischen Vierteln der Stadt. Viele tragen die Kippa, fast alle das Signet von „SOS Racisme“: „Hände weg von meinem Gedächtnis“. Und überall Menschen, die sich den gelben Stern angeheftet haben.
Obwohl die Veranstalter gebeten hatten, keine Transparente mitzubringen, schwenken einige Jugendliche die Fahne Israels. „Das ist die einzige Lehre aus der Geschichte: Wir müssen stark sein“, rechtfertigt sich eine Studentin. 300.000 Juden leben in Paris, und seit viele Sephardim aus Nordafrika einwanderten, ist die Gemeinde nicht nur religiöser, sondern auch selbstbewußter geworden.
Auf dem Boulevard du Temple, wo sonst der Pariser Verkehr zur Bastille hetzt, ist kein Hupen mehr zu hören. Nur jenes Summen, wenn einige hunderttausend Menschen leise miteinander reden. Lediglich die Motorräder der Radiostationen rasen durch den langsam voranschreitenden Zug. Seit Tagen beherrscht das Thema Carpentras die Medien in Frankreich. Auf allen Frequenzen debattieren die Experten, appellieren die Politiker und mahnen die Religionsführer. Kein Fernsehkanal, der nicht am Montag Alain Resnais‘ Holocaust-Film Nacht und Nebel gezeigt hätte. „Natürlich ist Carpentras auch ein Medienereignis“, meint Olivier Leonhardt von „SOS Racisme“, „aber die Leute sind ja heute nicht gekommen, weil das Fernsehen es ihnen gesagt hat, sondern weil sie zeigen wollen, daß in Carpentras eine Grenze überschritten worden ist. Die Reflexe stimmen noch.“
„Es ist genug“, steht auf den Buttons. Denn Carpentras ist nicht über Nacht gekommen. Seit einem Jahr wird die Grenze des Sagbaren immer weiter gezogen. Seit Mai letzten Jahres bietet jeder Kiosk die Tageszeitung 'Present‘ der Rechtsklerikalen an - einschließlich der antisemitischen „Protokolle der Weisen von Zion“ als Fortsetzungsserie; im September dann die Verbal-Diarrhöe eines Claude Autant-Lara, der das Überleben der Auschwitz-Deportierten Simone Veil öffentlich bedauern zu müssen glaubte; im Herbst schließlich die Affäre um die Karmeliterinnen in Auschwitz, als katholische Würdenträger die „jüdische Internationale“ neuentdeckten: eine Kette von Antisemitismen, geschmückt durch die Wahlerfolge der Front National und die juristisch abgesicherten Wortspiele ihres Führers unter den Augen der Fernsehkameras. „Es ist genug.“
In den letzten zehn Jahren hat es zehn Zerstörungen von jüdischen Friedhöfen in Frankreich gegeben. Aber noch nie war die Empörung so groß. Der Tabubruch, das Herausreißen von Leichnamen aus ihren Gräbern, die barbarische Pfählung eines toten Greises, das hat etwas in der französischen Gesellschaft getroffen, das tiefer liegt als bloße Abscheu. In seiner fast surrealen Intensität hat das Verbrechen vielen klargemacht, an was man sich schon wieder gewöhnt hat, 50 Jahre nach dem Vichy-Regime. Daß am ersten Mai mitten in Paris Petain gefeiert wird, dessen Regierung die Vernichtungsbefehle der deutschen Besatzer 150prozentig ausführte; daß noch kein einziger der französischen Verantwortlichen verurteilt wurde; daß Vichys Polizeichef Jean Bousquet im noblen 16. Bezirk seine Bankiersrente verzehrt - all dies hat nach Carpentras aufgehört, vergangen und Geschichte zu sein. Einen „Prozeß gegen Vichy“ fordert eines der wenigen Transparente am Platz der Bastille, wo der Marsch endet.
Von „Unmut“ und einer moralischen „Krise“ (Chirac) ist jetzt die Rede, von einer Gesellschaft, die sich durch die Abgehobenheit ihrer politischen Klasse und durch die Wucht des ökonomischen Umbruchs verloren hat und nun Halt im Rassismus sucht. Mitterrand spricht von einem „Ruck“, den sich Frankreich nun geben müsse. Die Demonstration am Montag abend hat zumindest gezeigt, daß die Gesellschaft sich nicht mehr mit schönen Worten und der Verwaltung des Status quo zufriedengeben will. Vielleicht also ein historischer Tag. Dann könnte - wenn es denn sein muß - bald eine neue Bronzetafel aufgehängt werden, am Standbild der „Republique“.
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