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Süden im Schatten des Ostens

Angst vor Auswirkungen der Umwälzungen in Osteuropa auf Schwarzafrika und den Maghreb / Ausländisches Kapital zieht sich zurück /Zusammenbruch des sozialistischen Lagers stärkt islamische Fundamentalisten  ■  Aus Algier und Dakar Selim Nassib

„Natürlich stellen wir uns Fragen. Wir waren gerade dabei, zu überlegen, wie wir unsere Produkte für 1993 wettbewerbsfähig machen, als die Ereignisse im Osten ausbrachen.“ In seinem Büro in der Innenstadt Dakars bemüht sich Seydoun Sy, Senegals Handelsminister, Zuversicht auszustrahlen. Aber auch er entgeht der Frage nicht, die ganz Afrika umtreibt: Welche Auswirkungen haben die Erschütterungen im Osten auf den Süden?

In den Botschaften und Ministerien, in den Cafes und Butiken wächst die Sorge, daß Europa die Staaten am anderen Mittelmeerufer zugunsten der östlichen Länder fallen lassen könnte. Zwar haben sich einige afrikanische Geschäftsleute der Hoffnung des marokkanischen Königs angeschlossen, wonach die Öffnung der Märkte im Osten auch der Ökonomie im Maghreb und Schwarzafrika Auftrieb verschaffen würde. Aber das „Syndrom des Zurückgelassenseins“ herrscht vor. Um so mehr, als der Süden jetzt selbst von den politischen Turbulenzen erfaßt wird.

Dabei überschlagen die europäischen Politiker sich in beruhigenden Erklärungen und Gesten. Am 15. Dezember unterzeichneten die EG und die 68 AKP-Staaten (Afrika, Karibik und Pazifik) nach 18 Monaten Verhandlung in der togolesischen Hauptstadt „Lome IV“, das wichtigste Nord-Süd -Abkommen. Finanzrahmen: zwölf Milliarden Ecu in den fünf kommenden Jahren, also 40 Prozent mehr als im vorangegangenen Lome III von 1984. „Die Europäische Gemeinschaft steht zu ihren Verpflichtungen, trotz der laufenden Umwälzungen in den Ländern des Ostens“, erklärte Michel Rocard, als Frankreich noch die EG-Präsidentschaft ausübte. Gut. Aber die Fonds sind nicht unerschöpflich (und der Osten wird keinen geringen Teil davon erhalten), und außerdem: Reicht es aus, wurmstichige Ökonomien einfach mit Geld zu versorgen?

Rückzug aus den Tropen

Schon jetzt ziehen sich westliche Unternehmen in ganz Westafrika eilends zurück. Nicht weil Osteuropa plötzlich das Kapital auf sich gezogen hätte, sondern weil der schwarze Kontinent schlicht pleite ist. Einem Bericht des CNPF (französischer Unternehmerverband, d.Red.) zufolge, planen 77 Prozent der französischen Unternehmer, sich in den nächsten drei Jahren aus Afrika zurückzuziehen. Eine um so bedrohlichere Tendenz, als eine Hauptstadt wie Dakar ausschließlich französische und amerikanische Banken aufweist: Alle senegalesischen Banken mußten ihre Schalter wegen Schlampereien und unsicherer Darlehen schließen.

Seydina Sy, der Hauptunterhändler bei „Lome IV“, versucht, dem allgemeinen Pessimismus zu widersprechen. Vielleicht scheint es dem Minister sogar, daß der Süden erst marginalisiert werden muß, um wirklich auf die Beine zu kommen. „Es ist gar nicht so schlecht, daß die frische Brise der Demokratie in die afrikanische Schwüle hineinbläst.“

Alles klar zur Wende

Um aus ihrem Status als Hilfsbedürftige herauszukommen, müssen die Länder des Südens zur Rentabilität finden, also mit Systemen brechen, wo die machthabende Partei die Wirtschaft kontrolliert, sie müssen die Vorzüge von Wettbewerb und Liberalismus entdecken. Kaum jemand, der nicht bereit wäre, den neuen Zeiten Tribut zu zollen. Natürlich erklärt ein Houphouet-Boigny in der von Demonstrationen geschüttelten Elfenbeinküste, daß er das Einparteiensystem nicht aufgeben werde. Aber die allermeisten Staaten werden von innen und von außen gedrängt, es „so zu machen wie der Osten“, das heißt: ihre Fassaden in neuen Farben zu streichen. Die Alliierten der Sowjetunion wie Benin und Äthiopien haben sich diesem Druck in den letzten Wochen schon gebeugt.

Die Staaten, die die Wende schon seit längerem vollzogen haben, hat der Fall der Berliner Mauer nur in der Überzeugung bestärkt, daß die Weichenstellungen unwiderruflich sind. In Dakar, der ehemaligen Hauptstadt Französisch Westafrikas, sind bis heute 17 politische Gruppierungen zugelassen worden, und das Land führte im Februar 1988 die ersten allgemeinen Wahlen durch.

Die Ähnlichkeit mit Osteuropa beschränkt sich nicht nur auf die Agonie der Einparteiensysteme; damit einher läuft auch der Übergang zur Marktwirtschaft. Seydina Sy vermag dies nicht sonderlich zu schrecken, weil diese Wende seit langem von IWF und Weltbank auferlegt worden ist. „Der Staat Senegal weigert sich inzwischen, Investitionsdirektiven zu geben“, erläutert Sy. „Er beschränkt sich darauf, kleine und mittlere Betriebe zu unterstützen, sobald sie sich etwas gefestigt haben. Nehmen Sie das Beispiel der dramatischen Flucht der Mauretanier im letzten Jahr, die 85 Prozent unseres Einzelhandels ausmachten. Unsere erste - sehr kartesianische - Reaktion war zu sagen: Wir brauchen einen Plan, um das Problem zu lösen. Aber dann haben wir es vorgezogen, erst einmal abzuwarten. Weniger als ein Jahr später sind senegalesische Händler an die Stelle der Mauretanier getreten, und die Zahl der Geschäfte ist von 21.000 auf 24.000 gestiegen. Es war nur wichtig, daß der Staat gegenüber den Lieferern als Bürge auftrat, denn die hatten alles Vertrauen verloren. Diese Politik ist für uns zum Modellfall geworden.“

Der Minister unterbricht das Gespräch, um seinen Kabinettschef damit zu beauftragen, unverzüglich eine Eisentür vor seinem Wohnhaus anbringen zu lassen: Für heute hat die Opposition zu Demonstrationen aufgerufen, und Seydoun Sy möchte nicht seine „liebe und zärtliche Gattin“ in Gefahr bringen...

Gefahren der Parabolantennen

Auch in den Straßen von Algier weht ein Wind der Rebellion. Tagtäglich wird der Verkehr wegen der Demonstrationen unmöglicher. Schmuckhändler, Bäcker, Taxifahrer, Lehrer kaum ein Sektor, der nicht in den letzten Monaten seine Streikbewegung gehabt hätte. Die Regierung läßt's geschehen und hofft, daß durch die relative Öffnung Dampf abgelassen werden kann. Aber ihre Furcht ist real: „Wenn der Maghreb zusammenbricht“, so munkelt es in den Zirkeln der Machthaber, „dann werden die Fundamentalisten als einzige Alternative dastehen. Kann Europa ein Interesse daran haben, Millionen 'Boat people‘ aufzunehmen, die durch eine solche Machtergreifung entstehen würden?“

Zurück an den Absender mit den Ängsten: Vergeßt uns nicht über den Osten, sonst fliegt euch das Ganze um die Ohren. Dieses Argument ist nicht aus der Luft gegriffen. Unter den zwanzig „Vereinigungen politischen Charakters“, die seit der Liberalisierung zugelassen wurden, findet sich auch eine Gruppierung wie die „Partei Algerische Sammlung“. Sie entstand - der Anekdote halber sei es erwähnt - durch eine Werbeanzeige in der Presse: gegenüber dem neuen Westen, der sich abzeichnet und Westeuropa, die UdSSR und die USA umfaßt, müsse zur „algerischen Authentizität“ zurückgekehrt und zum Anschluß an den „Block der islamischen Zivilisation“ geschritten werden. Wesentlich ernstzunehmender ist die „Islamische Heilsfront“, die auf ein Netz Tausender Moscheen im ganzen Land aufbauen kann. Weil sie sich ideologisch mit denen anlegt, die nach dem Zusammenbruch des östlichen Länder „westliche Lösungen“ als einzigen Ausweg vorhersagen, wird sie zum besten Auffangbecken für die Unzufriedenheit.

Während man in der einen Hand mit dem Tuch des Islamismus droht, verweist man in Algier auch auf die geostrategische Bedeutung des Maghreb, die Europa nicht vernachlässigen dürfte. „Wenn Europa es dennoch tun sollte“, so kürzlich im Fernsehen der ehemalige historische Revolutionsführer und heutige Oppositionelle Hossin Ait-Ahmed, nach seiner Rückkehr aus dem Exil, „so wird die deutsche Vereinigung und das neugewonnene Gewicht Nordeuropas ein Ungleichgewicht schaffen, daß die südeuropäischen Staaten reizen könnte, sich dem anderen Ufer des Mittelmeers zuzuwenden. Das weiß man in Spanien, Italien und vielleicht sogar in Frankreich.“

Frankreich hört nicht nur gerne auf dieses Argument, sondern hat im Februar mehrere Verantwortliche nach Algier geschickt, um die Führer des Landes zu beruhigen. „Wie auch immer das Ausmaß der jetzigen Demokratisierungsbewegung in den Länder Osteuropas sein mag“, meinte der Präsident des außenpolitischen Ausschusses der Nationalversammlung, Michel Vauzelle, im Gespräch mit dem Amtsblatt 'El Moudjahid‘, „nichts und niemand kann uns vom Maghreb weglocken, mit dem wir unsere Bindungen ausbauen möchten.“ Konkret bedeuten diese schönen Sätze, daß bi- und multilaterale Hilfe weiter aufrechterhalten werden muß.

Aber es geht nicht nur um harte Kohle. Auf den Dächern der algerischen Städte und Dörfer starren fast eine Million Parabolantennen in den Himmel, die auf den verschlungenen Wegen des Schwarzmarkts ins Land fanden. Mit ihnen können die „parabolierten“ - wie man hierzulande sagt - Haushalte ohne großen Aufwand Antenne 2, FR 3, Canal +, La Cinq (die französischen Sender, d.Red.) , die italienische RAI und einige andere europäische Kanäle empfangen. So konnten die Algerier den Fall der Mauer und das Aufbegehren von jahrzehntelang geknebelten Völkern live miterleben. Sie merkten natürlich, daß die westliche Öffentlichkeit ihre Augen nach Osten ausrichtet und daß sie selbst, die Südländer, bald noch weniger gern gesehen sein werden. Weshalb sollten nicht auch sie beginnen, von Umwälzungen zu träumen, die ihnen mehr Freiheiten und ihren Ökonomien die Integration in die reale Welt bringen könnten?

Eine Perestroika Vorsprung?

„Gorbatschow hat sich von uns inspirieren lassen“, sagen ohne jede Ironie die jungen Technokraten im Umfeld von (Algeriens, d.Red.) Präsident Chadli. Zum „Glück“ für das Regime sind die Unruhen, die von Polizei und Militär niedergeschlagen wurden (500 Tote) schon im Oktober 1988, vor den Umwälzungen im Osten, ausgebrochen. Sie haben zum Mehrparteiensystem geführt. So können die Machthaber mit gewissem Recht sagen, daß sie eine Perestroika Vorsprung haben. Von Boumediennes Mannschaft sprechen sie nur noch als dem „Ancien Regime“ und sind der Meinung, daß Algerien voll und ganz an der gegenwärtigen Umwertung der Werte teilhat: Einparteiensystem und sozialistische Wirtschaft sind auf den Müll geworfen; parlamentarische Demokratie und Privatunternehmen gelten von nun an als Nonplusultra.

1.500 algerische Privatunternehmer profitierten von dem neuen Wind und gründeten im Februar einen Unternehmerrat. Was ihre Geschäfte betrifft fürchten sie sich gar nicht so sehr vor einer „Festung Europa“, die ihre Begünstigungen nur an die Neffen im Osten verteilt. Ihre Sorgen sind weniger spekulativ: Im Hier und Jetzt leiden sie vor allem unter Bürokratie und dem staatlichen Außenhandelsmonopol, das noch in Kraft ist. Also trösten sie sich mit dem vielversprechenden Binnenmarkt: „Produziert, was ihr nur wollt - verkaufen läßt es sich immer!“ Die Angst vor dem Mangel ist ein algerisches Nationalsyndrom.

In seinem nagelneuen Büro hinter gepolsterten Türen sitzt Mustapha Moukrani einem der acht „Beteiligungsfonds“ vor, die die Regierung eingerichtet hat. Ihr Prinzip ist simpel: Knapp ein Drittel der 450 staatseigenen Betriebe wurde den Fonds überschrieben, um von ihnen wie ein Privatbetrieb verwaltet zu werden. „Zur Zeit“, meint Moukrani, „haben die Fonds vor allem ein erzieherische Aufgabe. Die neuen Manager wurden mit der Buchhaltung vertraut gemacht. Aber die bürokratischen und mentalen Hemmnisse sind so groß, daß man abspecken müßte, um die Unternehmen rentabel werden zu lassen, das heißt, daß man eine Entlassungswelle auslösen müßte...“ Eines Tages wird sich die Regierung entscheiden müssen, genau wie die anderen: um zur Marktwirtschaft zu gelangen, müssen unpopuläre Maßnahmen durchgesetzt werden, wo die Unzufriedenheit ohnehin schon groß genug ist. Dazu eine freie Opposition... Wer traut sich das schon zu?

Zumal auch die Empfehlungen der Weltbank keineswegs ungefährlich sind. Ein hoher französischer Verantwortlicher in Dakar: „Sie basieren auf dem liberalen Dogma: Öffnet die Grenzen und alles wird sich fügen. Dabei wird vergessen, daß sich etwa Südkorea erst entwickelt hat, nachdem es sich (vom Weltmarkt, d.Red.) abgegrenzt hat. Eine bloße Öffnung, verbunden mit massivem Zollbetrug wird die lokale Industrie abwürgen.“

Hat der Zusammenbruch des „sozialistischen Lagers“ letztlich die Krise des Südens also nur verschärft, weil er auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet neue destabilisierende Faktoren erzeugt hat? Vielleicht. Aber wie hätte es anders sein können auf ein und demselben Planeten? Die Umwälzungen in Afrika und dem Maghreb fangen gerade erst an.

„Man darf nicht glauben, daß die Entwicklungsprobleme so kompliziert sind“, bemerkt ein hoher Verantwortlicher. „In einem Land mit einem Minimum an Rohstoffen genügen schon ein Dutzend integrer Menschen, die wissen, welche Politik durchzuführen ist. So war es in der Elfenbeinküste zwischen 1965 und 1977. Mit dem Land ging es aufwärts. Dann wollte Houphouet ein Versailles hoch vier in seinem Heimatdorf Yamoussoukro errichten und, wider jede Vernunft, weiter in Zucker und Kakao investieren. Das Resultat sehen wir jetzt: kein Take-off ist unwiderruflich.“

Doch wie jene integren Leute finden, ohne die nichts laufen mag? Wird die Krise selbst sie hervorbringen? „Vielleicht ist der Schock heilsam“, meint ein algerischer Ökonom, einer der wenigen, die so reden. „Vielleicht werden die Leute eines Tages verstehen, daß man zunächst auf sich selbst vertrauen muß und nicht auf das Manna aus den Industrieländern. Erst dann, glaube ich, werden wir wirklich an den gegenwärtigen Entwicklungen etwas wirklicher teilhaben.“

Selim Nassib ist Redakteur bei 'Liberation‘, der wir den Text mit freundlicher Genehmigung des Autors entnommen haben.

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