Mord im Übersiedlerheim Kloster Blankenburg

Zimmernachbarn brachten Mann um, den sie des Diebstahls verdächtigten / Unhaltbare Zustände und wachsende Angst  ■  Von Klaus Schloesser

Autobahn28, Richtung Oldenburg, Abfahrt Wüsting, nach dreihundert Metern links ein Schild: Kloster Blankenburg ein Kilometer. Die kleine Stichstraße führt durch Felder und Wiesen. Dann rechts die Birken mit den Trabis und Wartburgs darunter, der Schlagbaum: „Landeswohnheim Niedersachsen, Zutritt verboten.“ In einem Wohnwagen: Die diensthabenden Posten der eigens angeheuerten Wachmannschaft, die den Schildern bei Bewohnern und Besuchern Respekt verschaffen. Gäste haben Grund und Zielperson ihres Besuchs zu erläutern, Bewohner beim Betreten den Lagerausweis vorzuzeigen. Stichprobenartig werden Taschen überprüft: Offiziell herrscht im Lager Alkoholverbot. Inoffiziell schenkt der Pächter der einzigen Kantine auf dem 29-Hektar-Gelände ab 15.30 Uhr Bier und Schnaps aus. Wer die Kantinenpreise von Arbeitslosengeld und „Stütze“ nicht bezahlen kann, versucht's mit Schmuggeln. Im Fenster des Wachmännerwohnwagens der Spruch: „Ganz Deutschland ist ein Irrenhaus, und hier ist die Zentrale.“

Die ersten Hilferufe hörte der 12jährige Alexander M. gegen 16 Uhr. Dazwischen gelallte Wortfetzen: „Dich machen wir fertig, Du Klauerschwein!“ Sonntag nachmittag, Siebenbettzimmer drei. Hinter allen Türen auf den langen, schmutziggelben Zimmerfluchten im Block 18 laufen die Fernseher. Tennis im Zweiten, Hans Albers im Ersten. In Zimmer 15 glaubt eine Frau, Schreie zu hören. Ihr Mann beruhigt sie: „Das war doch nur nur im Fernsehen.“ Am Dienstag, zwei Tage später wird er der Polizei sagen: „Wer konnte denn gleich sowas ahnen.“ Am Dienstag ist in Zimmer drei der 48jährige Wilfried H. von vier Zimmernachbarn zu Tode gequält worden.

Früher kam in die „Langzeitklinik Blankenburg“, wen die Psychiater in Bremen aufgegeben hatten: Hoffnungslose Fälle. Heute wohnen in den langgezogenen Baracken und zweigeschossigen Klinkerbauten rund um die ehemalige Klosterkapelle 770 Aus- und Übersiedler. 4-Bett- bis 14 -Bettzimmer mit Stahlrohretagenbetten, eine Dusche für 100 Menschen, eine Waschmaschine. Ab 8 Uhr stehen Eltern mit ihren Kindern vor dem Kinderbetreuungsraum Schlange. Ab 8.15 Uhr hängt ein Zettel an der Kindergartentür: „Wegen Überfüllung geschlossen.“ Wer keinen Platz kriegt, muß „auf Zimmer“ spielen. Platz für persönliche Gegenstände: Unter dem Kopfkissen oder unter der Matratze. Abschließen der Zimmer verboten. „Aus feuerpolizeilichen Gründen“, sagt Heimleiter Wolfgang Freiboth. „Geklaut wurde hier schon immer“, sagt eine Mutter, die mit drei Kindern seit neun Wochen im Lager lebt: „Wenn ich nachts mal aufs Klo muß, wecke ich meinen Mann. Allein traue ich mich nicht über den Flur.“ Das war auch schon vor dem Mord so. Auch das z.B.: Die Mutter von Zimmer 7 (zehn Quadratmeter, vier Betten), die ihren vier Kindern eingeschärft hat, sich einzuschließen, solange sie arbeiten muß. Das Schloß hat sie vom ersten Vorschuß - entgegen der Hausordnung - einbauen lassen. Kurz nach vier Uhr versucht Alexander M., die Erwachsenen in Block 18 zu alarmieren: „In Zimmer drei ruft ständig jemand um Hilfe.“ Alexander M. ist mit seiner Mutter und den drei Geschwistern erst vor einer Woche aus Blankenburg (Wernigerode/DDR) nach Blankenburg (Oldenburg/BRD) gekommen. Er kennt sich noch nicht aus: „Bei denen ist doch immer was los. Da gibt's jeden Tag Krach. Am besten hält man sich da raus.“

Schließlich hält der Junge es nicht mehr aus. Leise öffnet er die Tür zu Zimmer drei. Schnapsflaschen auf dem Tisch, drei Männer, eine Frau. Wilfried H. liegt blutüberströmt und röchelnd am Boden. „Verschwinde hier, hau ab!“ Alexander M. versucht noch einmal in den Nebenzimmern zu erzählen, was er gehört und inzwischen auch gesehen hat. Ergebnislos: „Laß die in Ruhe, geh‘ spielen!“ Um 17.30 gibt Alexander M. auf. Er geht „spielen“, dann zum Abendbrot. Es gibt Bratkartoffeln und Stullen. Was derweil in Zimmer drei passiert, ist für Heimleiter Freiboth schon am Dienstag nur noch „ein bedauerlicher Zwischenfall, der für uns alle völlig unerklärlich ist“. „Nein, wir hatten keine Indizien für besondere Spannungen hier im Lager“, bestätigt Karin Heinemann, Leiterin der Sozialberatungsstelle im Lager. Drei Sozialarbeiter kümmern sich um die Probleme der bis zu 1.000 Aus- und Übersiedler. Weitere 17 erledigen ausschließlich den Papierkrieg bei der Weitervermittlung der Insassen in niedersächsische Kommunen.

Um 19 Uhr alarmiert die 18jährige Nicole D. die Sanitäter vom Johanniter-Unfalldienst auf dem Gelände. Angeblich hat sie Wilfried H. auf seinem Zimmer besuchen wollen und ihn blutüberströmt in seinem Bett gefunden, die Bettdecke übers Gesicht gezogen. Später wird die Polizei Nicole D. als vierte mutmaßliche Täterin verhaften.

Als die Sanitäter in Zimmer drei eintreffen, finden sie einen Sterbenden, um Luft ringend. Das Gesicht von Faustschlägen völlig verschwollen, Platzwunden am Hinterkopf, bei der Obduktion werden später Putzspuren aus der Zimmerwand in Wilfried H.s Haaren gefunden. Wangen und Nasenlöcher zeigen Brandwunden von glühenden Zigaretten, die seine Zimmernachbarn in seinem Gesicht ausgedrückt haben. Als wenig später der Notarzt eintrifft, kann er nur noch den Tod feststellen. Nach 20 Minuten werden die Wiederbelebungsversuche eingestellt. Wilfried H. ist an Erbrochenem erstickt. Seine Zimmernachbarn hatten ihn gezwungen, ein Stück Seife und Zahnpaste zu essen.

Im Lager kannte Wilfried H., der acht Wochen neben ihnen gewohnt hatte, keiner. Auch seine Mörder, die ihn im Verdacht hatten, Lebensmittel aus ihrem Zimmer gestohlen zu haben, waren Unbekannte. Wie jeder in Blankenburg. „Hier geht jeder seiner Wege, allenfalls gibt's ein 'Guten Tag und guten Weg.'“

Am Dienstag bestellt Heimleiter Wolfgang Freiboth einen Trupp zum Rasenmähen auf den 29 Hektar großen Parkanlagen. Alle Fußwege werden gefegt. Das Fernsehen hat sich wegen des „bedauerlichen Zwischenfalls“ angesagt. Und Presse auch. An Zimmer drei kleben noch die roten Klebestreifenreste mit der Aufschrift „Polizei - Nur von Befugten zu öffnen.“ Offiziell ist Zimmer drei längst wieder freigegeben und in „bezugsfähigem Zustand“, wie Heimleiter Freiboth versichert. Öffnen will er es für Journalisten trotzdem nicht. „Ich habe meine Anweisungen vom Ministerium.“