: Zwerge und Stadtmusikanten im Märchen-Par(ad)is
■ SchülerInnen aus 17 europäischen Ländern stellten in Paris ihre Märchen vor / Aus Bremen mit dabei: Kippenberg- und Otto-Braun-Schule
Zweitausend Jugendliche stampfen, klatschen, johlen. Kein Rockkonzert ist der Anlaß, sondern der Auftritt von Bürgermeister Jacques Chirac im Spiegelsaal des Pariser Rathauses.„Wir arbeiten an einem gemeinsamen Europa im Bewußtsein der eigenen Identität. Ihr seid die Botschafter des Europa von morgen“, wendet sich Chirac an die Gäste aus 17 europäischen Ländern, unter ihnen zwei Bremer Schulklassen - und wieder bebt der Saal. Anschließend stürmen die 15 bis 17jährigen das Buffet und verlustieren sich an Champagner und feinsten Maulschmeichlern. Anja vom Kippenberg-Gymasium: „Beim Empfang im Rathaus hat sich alles verlaufen. Das war sehr anonym. Wir haben gegessen und sind wieder gegangen. Als wenn Chirac uns zeigen wollte: wir haben Prunk und Geld.“
In Paris ist eben alles etwas größer. Und wenn man sich zur Pflege der französischen Sprache in Europa entschließt, dann muß auch dies ein gigantisches Spektakel sein. Der Kulturverband GES (Groupe d'Encouragement au Spectakle) leistete im Auftrag der Stadt Paris eine perfekte Organisation. Reibungslos schleusten
die zwölf OrganisatorInnen und ihre ungezählten HelferInnen am vorvergangenen Wochenende die 40 Schulklassen aus Paris und die 47 Schulklassen aus dem restlichen Europa, aufgeteilt in 20 Gruppen aus je fünf Nationalitäten, durch die Stadt an die verschiedenen Orte des Geschehens. Anja: „Eine tolle Organisation! Wir sind fast überall in Paris herumgekommen! “
Die Jugendlichen waren eingeladen, die Märchen ihres Landes vorzustellen. Drei Monate lang hatten sie im Unterricht gemeinsam mit einer AutorIn an der modernen Fassung des Märchens ihrer Wahl gearbeitet und es ins Französische übersetzt. An jeweils einem Nachmittag stellten fünf Schulklassen aus fünf Ländern ihre Resulate vor. Nach den Darbietungen stoben alle wieder auseinander. Anja: „Es wäre besser gewesen, wenn die Gruppen zusammen gearbeitet hätten.“ Anika: „Eigentlich waren es zu viele Jugendliche.“
Die Annäherung an das Fremde ist eher verhalten. „Urgs, das Fleisch ist ja roh!“ Die eigenen Maßstäbe gelten allemal. Vier Tage reichen nicht, um festzustellen, daß es roh sein soll. Kommunikation
Auch bei den anderen organisierten Vergnügungen blieben die Klassen - auch die großen und kleinen BremerInnen pflegten ihre Feindschaften - unter sich. Zum Glück blieb genug Zeit, die Stadt auf eigene Faust zu erkunden und abends in der Unterkunft leise Bande zu knüpfen.
Was war am Schönsten? Anja: „Auf den Stufen der Sacre-Coeur zu sitzen. Da haben wir mit Amis, Leuten aus der DDR, Australiern und Franzosen gesprochen.“ Markus: „Die Franzosen sind sehr aufgeschlossen. So etwas könnte man in Deutschland nicht erleben.“ Die Märchen
Ausgehend vom Grimm-Märchen „Der Fischer und seine Frau“ erzählten die Jugendlichen vom Kippenberg-Gymnasium eine Geschichte über die Zerstörung der Umwelt. Ein öko -philosophisches Märchen, das die uralte Märchen-Moral auf unsere modernen Umweltprobleme überträgt.
Angeregt durch einen neuen Mitschüler aus der DDR machten die SchülerInnen vom Otto-Braun-Schulzentrum die Bremer Stadtmusikanten zu Übersiedlern aus der DDR. Die SchülerInnnen
inszenierten mit Hilfe ihrer Lehrerin und Tanz-Expertin Beate Krings ein temperamentvolles Tanz-Theater: Die grauen Männer der Bürokratie bewegten sich robotergleich durch ein unsichtbares Labyrinth, die Stadtmusikanten glänzten mit Persiflagen auf die Musikwelt. Die AutorInnen
In einem historischen Hörsaal der Sorbonne trafen sich an einem Nachmittag die AutorInnen und einige LehrerInnen aus ganz Europa und tauschten ihre Erfahrungen aus. Angeturnt durch das Gold-Stuck-Ambiente und unter den wandgemalten Blicken von Moliere, Pascal und Descartes declamiert ein irischer Autor: „Die Schriftsteller sind einsam und die Lehrer auch, aber in diesem Projekt hatten wir ein gemeinsames Ziel.“ „Es war eine Bereicherung“, schwärmt eine Lehrerin aus Portugal, „die Erfahrung einer ideellen Anstrengung ohne Repression.“ Von Problemen ist hier nicht die Rede.
Autorin Sonja Nowoselsky-Müller, die im Kippenberg -Gymnasium mit den SchülerInnen gearbeitet hat, und Johann Günther König, der im Otto-Braun-Schulzentrum tätig war, geben einen
Einblick in die strukturellen Probleme, den Widerspruch zwischen Schulalltag und Kreativität. Nowoselsky-Müller: „Die Schüler sind so eingespannt, daß wir außerhalb des Unterrichts keine Stunde vereinbaren konnten. Und die zwanzig Unterrichtsstunden waren sehr knapp bemessen.“ König: „Morgens zwischen acht und zehn Uhr, kurz vor der Zeugnisausgabe, die Schüler zur Kreativität anzuregen, das sind nicht die besten Bedingungen. Es wäre besser, eine ganze Projektwoche zu veranstalten.“ Die beiden Bremer Märchen sind von der GES-Jury ausgewählt worden und werden mit vielen anderen europäischen Märchen gedruckt.
Ein französischer Lehrer: „Das eine Ziel, in der Fremdsprache schreiben zu lernen, ist geglückt. Das andere Ziel, das der Begegnung, ist mißglückt.“
Aus der Sicht der SchülerInnen ist es eher umgekehrt: Die französischen Texte sind unter dem Anspruch, Druckreifes zu produzieren, so anspruchsvoll geraten, daß die SchülerInnen ihrer gar nicht mehr mächtig waren. Die noch so kleinen Begegnungen wiegen als positive Erinnerung viel schwerer. Einige Stimmen aus dem Otto-Braun-Schulzen
trum: „Die Franzosen sind echt locker“, sagt Natalie. „Klar haben wir französisch gesprochen“, sagt Christin. „Einer hat mich gefragt, aus welchem Deutschland wir kommen. Ich wußte nicht, was Westen heißt. Da hat er gefragt, Kapitalist oder Kommunist, und da war die Antwort ganz einfach!“ Die Deutsch -Lehrerin Doris Overbeck: „Die Schüler nehmen alle etwas mit nach Hause.“ Und auch die Französisch-Lehrerin Sigrid Schütte meint: „Der Aufwand hat sich gelohnt.“
Dem Einsatz und den Kontakten von Bernard Ginsbourger vom Institut Francais ist es zu verdanken, daß gerade die zwei Schulklassen aus Bremen an dem Pariser Spektakel teilnehmen konnten. In Frankreich gibt es das Projekt „Künstler in der Schule“ schon länger. Ginsbourger: „Dieses europäische Projekt war ein unglaubliches Wagnis, und es ist geglückt. Solch ein Projekt entspricht meiner Philosophie: Daß Französisch als lebendige Sprache gelehrt wird, und daß durch gemeinsame Projekte Kommunikation entsteht.“ Die Friedhofsschändungen von Carpentras zeigen, wie nötig das ist.
Beate Ramm
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