: Sogenannte verstopfte Hörner
■ Zwei Geschichten des Jazz im Herzen der Dunkelheit
Josef Skvorecky
Viele glauben, im Jazz äußere sich das Freiheitsverlangen der Schwarzen, die in Amerika lange Zeit in Unfreiheit lebten. Die wilden Töne und bittersüßen Honig-Harmonien, die mich während meiner Jugend unter einem Regime totaler Unfreiheit - dem nationalsozialistischen Neuen Europa aufheiterten - laetificantur iuventutem meam -, haben mich allerdings immer zögern lassen, in die Tiefen der Philosophie einzutauchen. Und doch ist es eine historische Tatsache, daß der Jazz für die beiden tödlich modernen Diktaturen, Hitlers Deutschland und Stalins Rußland, nicht Schönheit war, sondern Gefahr. Diese Regimes versuchten, die Musik auszuradieren und zu verbieten - letztlich ohne Erfolg, unter anderem weil sie so schwer zu definieren ist. Ist der Jazz nicht, um mit Armstrong zu sprechen, eher „eine Art, Musik zu machen“, als ein definierbares Genre? Und bezauberte nicht der italienische Jazz-Pianist Primo Angeli das deutsche Publikum im Krieg mit Boogie-Woogie-Klängen vom Cembalo, das als respektables Barockinstrument die synkopische schwarze Teufelei für arische Ohren annehmbar machte? So entging die Musik durch verschiedene Tricks und mit der zynischen Erlaubnis ihres nationalsozialistischen Hauptfeindes Dr.Joseph Goebbels dem totalen Verbot. Dennoch entging sie nicht der Verfolgung.
Man wird wohl niemals erfahren, wieviele Jazzfreunde in Konzentrationslagern endeten, weil sie zu Benny Goodmans Musik tanzten, dessen Hände der Kolumnist des 'Illustrierten Beobachters‘ als „Hände eines typisch jüdischen Kriminellen“ beschrieb. Wieviele Menschen wurden eingesperrt, weil sie diese „jüdisch-negride“ Musik liebten, spielten oder auch nur im britischen oder im neutralen schwedischen Radio hörten? Überliefert sind jedenfalls die Gedanken des Reichsführers SS, Heinrich Himmler, zum Jazz in einem Brief von 1942 an Gestapo-Chef Reinhard Heydrich: „Alle Rädelsführer, und zwar die Rädelsführer männlicher und weiblicher Art, unter den Lehrern diejenigen, die feindlich eingestellt sind und die Swing-Jugend unterstützten, sind in ein Konzentrationslager einzuweisen. Dort muß die Jugend zunächst einmal Prügel bekommen und dann in schärfster Form exerziert und zur Arbeit angehalten werden. Irgendein Arbeitslager oder Jugendlager halte ich bei diesen Burschen und diesen nichtsnutzigen Mädchen für verfehlt. Die Mädchen sind zur Arbeit im Weben und im Sommer zur Landarbeit anzuhalten.
Der Aufenthalt im Konzentrationslager für diese Jugend muß ein längerer, 2 - 3 Jahre sein. Es muß klar sein, daß sie nie wieder studieren dürfen. Bei den Eltern ist nachzuforschen, wie weit sie das unterstützt haben. Haben sie es unterstützt, sind sie ebenfalls in ein KL. zu verbringen und das Vermögen ist einzuziehen.“ Umfassende Maßnahmen waren die Folge. Tanzsäle wurden geschlossen, Musiker verhört.
Schon auf einer geheimen Konferenz am 1.Februar 1941 hatte Deutschlands Propaganda-Chef Joseph Goebbels verlauten lassen, daß die „Musik mit verzerrten Rhythmen“ und die „Verwendung von sogenannten verstopften Hörnern grundsätzlich verboten“ seien. Trotzdem gab es im Herzen von Goebbels‘ Reich der Dunkelheit eine hervorragende Swing -Band, die tagtäglich auftrat: Charlie und sein Orchester. „Goebbels‘ Band“ nannten die 'Stars and Stripes‘ sie später, nach dem Krieg, als die GIs in dem besiegten Land, in dem sie nur teutonische Marschmusiker vermutet hatten, zu ihrem Erstaunen hervorragende Jazzer vorfanden. Und wirklich ist die Existenz dieser erstklassigen europäischen Jazzmusiker eines der Pardoxa des Dritten Reiches. Obwohl Goebbels den Jazz von Grund auf haßte, war er clever genug, seinen Proagandaeffekt auf die alliierten Soldaten und die britische Zivilbevölkerung nicht zu verkennen. Während man also mit den Deutschen, die den „Neger-Synkopen“ im schwedischen Radio lauschten, „angemessen“ verfuhr, wurden die Hörer des deutschen Kurzwellensenders auf den britischen Inseln und später die US-Soldaten im befreiten Frankreich mit Klängen Goodmanscher und Glenn Millerscher Prägung überflutet.
Jene Musiker, die das Spielen im Dienst der Nazis dem Kriegsdienst vorzogen, glaubten an den Jazz: Der große Vorteil ihrer merkwürdigen musikalischen Prostitution lag eben in der Befreiung vom Wehrdienst. Fritz „Freddie“ Brocksieper (14mal zum Kriegsdienst einberufen, aber kein einziges Mal eingezogen), der Trompeter Nino Impallomeni und der Pianist Primo Angeli entzogen sich dem Dienst in Mussolinis Truppen, die Belgier Benny de Weille (Klarinette), Willy Behring (Posaune) und Eugene Henkel ((Tenorsax) entgingen der Zwangsarbeit in Rüstungsbetrieben. Das Repertoire der Band bestand hauptsächlich aus amerikanischen Swing-Hits der damaligen Zeit, umgeschrieben von einer Gruppe von Arrangeuren und mit Texten versehen, die die sexuelle Botschaft von Perry Como in eine politische umwandelten.
Der Sänger Karl „Charlie“ Schewedler intonierte in fast akzentfreiem amerikanischen Englisch zum Beispiel: „You're the tops/ You're a German flier,/ You're the tops, you're machine gun fire,/ you're a U-boat chap with a lot of pep“ etc., und mit seiner Samtstimme jubilierte er: „Let's go to it, let's do it, let's go bombing, it's becoming quite the thing to do/ Let's go shelling wehre they're dwelling...“ etc. Aber hier funktionierte Goebbels‘ Kalkül nicht mehr. Denn die Londoner Hörer, die den subtilen Sound der Band vielleicht mochten, wandelten sich kaum zu Nazi -Sympathisanten, wenn Charlie den Blues imitierte:
„I hate to see, de evenin‘ sun go down.
I hate to see, de evenin‘ sun go down.
Cause de German, he done bomb his town.“
Trotz ihrer musikalischen Fähigkeiten wurden die Musiker von einem lohnenden Einsatz zu einer Belastung für den oberschlauen Dr.Goebbels. Nichtsdestotrotz bleibt ihre musikalische Überlebensstrategie eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte des Jazz.
Gleichzeitig existierte auf der anderen Seite des nationalsozialistischen Spektrums für kurze Zeit ein anderer Jazz-zum-Überleben. Im Nazi-Protektorat Böhmen und Mähren ermutigte man die Juden - die man andererseits beschuldigte, den „Jazzbazillus“ in der gesunden Bevölkerung des arischen Europa verbreitet zu haben -, den Jazz zu lernen. Natürlich war das alles Teil einer Strategie. Damit die Listen der Juden komplettiert werden konnten, befahlen die Nazi -Autoritäten der gesamten jüdischen Bevölkerung, sich „für die Emigration“ registrieren zu lassen. Offiziell bestand die „Endlösung der Judenfrage“ in der Massendeportation: eine trostlose Zukunft, jedoch nicht tödlich, wie die Gaskammern, deren Existenz natürlich höchster Geheimhaltung unterlag. Um ihre Mitglieder auf die veränderten Bedingungen im erzwungenen „Exil“ vorzubereiten, mußten die Jüdischen Gemeinden „Umschulungskurse“ organisieren. So wurde ein Lehrgang für Interpreten klassischer Musik angeboten, aus denen Jazzmusiker oder besser: Tanzmusiker werden sollten. Das Resultat war eine Bigband namens „Killie Dillers“ (der Name basiert auf einer Fehlinterpretation des Begriffs „killer diller“ aus einer amerikanischen Zeitschrift, der den Bandleader Erich Vogel an das hebräische Wort „kehilah“
-Jüdische Gemeinde - erinnerte). Im März 1942 wurde das Ensemble auf die erste Etappe der „Emigration“ geschickt: ins Ghetto von Theresienstadt in Nordböhmen, Station auf halbem Weg. Von hier aus gingen die Transporte zur Endstation der Emigranten ab: nach Auschwitz.
In Theresienstadt taten sich die ausgebildeten Bach-Spieler mit Jazzern zusammen, wie z.B. mit Fritz Weiss, dem Klarinettisten und Arrangeur des Emil-Ludvik Hot Orchesters, einer der besten tschechischen Jazz-Bands der Kriegszeit. Zunächst leitete Weiss das Fritz-Weiss Quintett; dann kamen immer mehr Musiker ins Ghetto, und er vergrößerte das Quintett zu einer Dixieland-Band und gab ihr den Namen „Ghetto Swingers“. Später, als Juden aus ganz Europa nach Theresienstadt deportiert wurden, entstand aus der Band ein 15köpfiges, international besetztes Orchester. Weiss wurde zu seinem Star-Klarinettisten, einem Benny Goodman des Ghettos. Der deutsche Jude Martin Roman griff zum Taktstock, weitere Mitspieler kamen aus Dänemark, Holland und Frankreich. Soweit mir bekannt ist, gibt es noch einen Überlebenden in Kanada: den Gitarristen Franz Goldschmitt, der seinen Namen nach dem Krieg in Frantissek Horsky umänderte.
Die Ghetto Swingers erlebten eine kurze Gnadenfrist, als die SS-Oberherren im Ghetto einen Besuch des Internationalen Roten Kreuzes erwarteten. Für dessen Komitee erschuf die SS ein vollständiges Potemkinsches Dorf, mit einem Cafe für Auftritte der Ghetto Swingers (ein Foto von diesem kurzen Zwischenspiel existiert noch), einem Korso auf dem Marktplatz und zwei Fußballmannschaften, die vor einem zur Begeisterung gezwungenen Publikum gegeneinander antraten. Laut Erich Vogel spielten die Ghetto Swingers groovy und mit Gefühl, „vornehmlich im Stil Benny Goodmans“.
Das war am 23.Juni 1944. An diesem Tag inspizierten zwei Dänen und ein Schweizer das Ghetto, „das der Führer den Juden geschenkt hatte“. Das Ende des Potemkinschen Dorfes kam am 28.September 1944, als die Ghetto Swingers mit anderen zusammen nach Auschwitz deportiert wurden, wo sie dem berüchtigten Dr.Mengele gegenüberstanden. Wenn dieser Unmensch nach rechts deutete, hieß es - zumindest für ein paar Wochen - Leben, der Weg nach links führte in die Gaskammer. Die Neuankömmlinge wußten dies nicht. Wie ein Augenzeuge berichtete, ging Fritz Weiss, als er selbst nach rechts, sein alter, kranker Vater jedoch nach links gewinkt wurde, zu Mengele hin und bat ihn höflich, bei seinem Vater bleiben zu dürfen. Mengele grinste: „Wie Sie wollen.“ Eine halbe Stunde später war der bemerkenswerteste Jazzer der tschechischen Swing-Ära trot.
Anderen Bandmitgliedern erging es besser. Sie durften sogar - bzw. mußten - für die SS-Wachen des Lagers jazzen. Nach Aussagen desselben Augenzeugen liebte die Creme der arischen Rasse ganz besonders den Tiger Rag, der ihnen als Der schwarze Panther vorgeführt wurde. Vielleicht erinnerte dieser erfundene Titel die Krieger, die zu der Zeit hauptsächlich mit Trinken beschäftigt waren, an ihren Panzer des Modells Panther oder an ihr Schwarzes Korps. Aber viel wahrscheinlicher ist, daß sie sich gegen Ende des Jahres 1944 um die Reinheit der Rasse nicht scherten (schließlich gab es sogar eine muslimische SS-Division, die „Handschar“) und das genießen wollten, was ihnen von den Zeiten des Ruhms geblieben war. Versüßt wurde ihnen die Götterdämmerung von einer Zigeunerband (die nach sechs Wochen „durch den Kamin ging“, wie ein Sturmbannführer es nannte) und den letzten Überlebenden der legendären Ghetto Swingers.
Das Reich zerfiel. Die Ghetto Swingers wurden nach Sachsenhausen deportiert, wo ein Lagerinspektor, heimlicher Bewunderer der Band, sich an Martin Roman noch aus Vorkriegszeiten erinnerte und die Musiker für leichtere Arbeiten einteilte. Schließlich waren sie über die gesamten Überreste des endgültig untergehenden Dritten Reiches verteilt. Erich Vogel wurde nach langer Odyssee von der US -Armee in seinem Versteck im Dorf Pentzenhausen aufgefunden. In der Einheit seiner Retter erregte er viel Aufsehen, als es ihm gelang, mit verbundenen Augen amerikanische Solisten und Arrangements von Schallplatten zu identifizieren. 1948 emigrierte Vogel in die Staaten und schrieb dort einen langen Augenzeugenbericht für das 'Down Beat'-Magazin, dem ich viele Informationen zu verdanken habe. Ich weiß nicht, ob Vogel noch am Leben ist.
Im Buch der Ironien, Paradoxien und Absurditäten Nazi -Deutschlands hat also auch der Jazz ein eigenes Kapitel. Es ist eine Geschichte des zynischen Mißbrauchs und eine des verzweifelten Überlebens. Und es gibt noch viele andere Geschichten: die der Freude, der Hoffnung, des Protestes, der Provokation. Aber diese zu erzählen, wären zuviele Seiten nötig. Aus dem Englischen
von Annette Schlichte
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