Die Fahne des Zaren weht in Moskau

Russischer Volksdeputiertenkongreß diskutiert „Wiederherstellung der staatlichen Souveränität“ und hißt die blau-schwarz-weiße Flagge / Wlassow und Jelzin kandidieren für das Präsidentenamt / Ökologische und gesundheitliche Probleme Rußlands bleiben außen vor  ■  Aus Moskau Barbara Kerneck

Wenn zwei das gleiche wollen, ist es oft bei weitem nicht dasselbe. Dies zeigte die Anfangsabstimmung des ersten Kongresses der Volksdeputierten der Russischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR), der am Dienstag seine Arbeit in Moskau aufnahm.

Bei nur drei Gegenstimmen und einer Enthaltung stimmten fast die berühmten 99 Prozent der 1.059 Deputierten für die Aufnahme des Punktes „Wiederherstellung der staatlichen Souveränität Rußlands“ in die Tagesordnung. Ebensoviele applaudierten am Abend des ersten Tages stehend, als endlich die blau-schwarz-weiße Fahne des alten Rußlands über dem Präsidium gehißt wurde. Wozu dies gut sein soll, wird von den Abgeordneten unterschiedlich beurteilt: Etwa die Hälfte faßt die beschriebenen Beschlüsse als Bestätigung ihrer vaterländisch-chauvinistischen Bestrebungen auf, während die andere Hälfte damit ein solidarisches Gleichziehen mit den Souveränitätsbestrebungen anderer Sowjetrepubliken unter Beweis stellen will.

Unentschieden ist bei diesem Kongreß, auf dem Arbeiter und Frauen nur zu je fünf Prozent vertreten sind, die Wahl des neuen Präsidenten der RSFSR. Zur Disposition stehen sowohl der gegenwärtige RSFSR-Ministerpräsident, Alexander Wlassow, wie auch der von Gorbatschow als Moskauer Parteichef abservierte Boris Jelzin. Beide mochten sich zu ihren Chancen nicht äußern, sie genießen jedoch die Unterstützung je eines Drittels der Abgeordneten.

Politbürokandidat Wlassow, seit 1961 Parteimitglied und seit 1977 Mitglied des damals noch marionettenhaften Obersten Sowjet, war nacheinander Sekretär verschiedener Parteigebietskomitees, zum Beispiel in der Tschetscheno -Inguschischen Autonomen Sowjetrepublik, deren Bewohner gegen einen ethnischen Russen an der Spitze damals nichts einwandten. Den Gipfel seiner Karriere erreichte er mit seiner Ernennung zum Innenminister der UdSSR, von dem er auf sein heutiges Amt als Ministerpräsident der RSFSR überwechselte.

Jelzin bleibt Volksheld

trotz seiner Affären

Jelzin genießt wegen seines beherzten Kampfes gegen Bonzenprivilegien noch immer die Verehrung breitester Volksmassen, auch wenn, oder gerade weil im letzten Jahr einige Bubenstückchen sein Image des „Weißen Riesen“ differenzierten. In einem Pressestatement zu Beginn letzter Woche äußerte Jelzin den Verdacht, daß UdSSR -Ministerpräsident Gorbatschow das noch nicht entschlossene Drittel des RSFSR-Kongresses unter Druck setze, um eine Entscheidung gegen ihn zu erwingen. Die Hoffnung vieler Jelzin-Parteigänger, daß die Wahl zum Präsidenten Rußlands möglichst bald abgehalten werden möge, zerschlug sich, als ihnen durchaus gleichgesinnte Deputierte von Wlassow einen Rechenschaftsbericht der russischen Regierung verlangten.

Die Stunde dafür schlug schließlich am Sonnabend. „Ungewöhnlich und schwierig“, so Wlassow, habe sich das Schicksal Rußlands gefügt, mehr als andere Sowjetrepubliken habe es unter der grausamen Zentralisierung der sowjetischen Verwaltung gelitten, bis sich die „Staatlichkeit Rußlands in den Unionsstrukturen“ gleichsam auflöste. Rußland habe, so Wlassow, sowohl im Import-Export-Geschäft als auch durch einen unangemessen großen Anteil von Schwerindustrie auf dem eigenen Territorium gegenüber den anderen Sowjetrepubliken nur draufgezahlt. Kein Wort äußerte er allerdings zu der Mitverantwortung der RSFSR-Regierung. Weder Wlassow noch Abgeordnete aus der Provinz wagten den Versuch, zum Gesundheitswesen, der niedrigen Lebenserwartung und hohen Säuglingssterblichkeit oder der ökologischen Situation der RSFSR Stellung zu nehmen.

Während die Moskauer Presse sich in ihrem Bedauern über die Nabelschau der Deputierten aus den Bärenwinkeln einig ist, schätzt sie die Zusatzanträge der Deputierten des reformfreudigen Blocks „Demokratisches Rußland“ verschieden ein. Neben dem unbestrittenen Punkt der Einführung einer lokalen Marktwirtschaft der RSFSR haben diese Abgeordneten jetzt auch noch erzwungen, daß eine neuerliche Umformulierung der Republikverfassung diskutiert werden soll. Danach würde der jetzige Präsident nur für eine zweijährige Übergangszeit bestimmt, und danach - vielleicht zum ersten Mal in einer Unionsrepublik der UdSSR - ein Präsident direkt durch das Volk gewählt. Die Entscheidung für den aktuellen Präsidenten kann sich dadurch allerdings eventuell bis über den kommenden Dienstag hinaus verschieben, und manche Kommentatoren jammern schon über „Verschwendung des Volksvermögens durch exzessive Tagungen“. „Gute Gesetze kommen eben teuer zu stehen“, meint dagegen die Tageszeitung 'Moskowskij Komsomoljez‘, „aber sie zahlen sich auch aus“.