Der Hexenaufstand steht noch aus

■ In der deutsch-deutschen Debatte um die Abtreibungsfrage verhalten sich die DDR-Frauen relativ ruhig - bislang durften sie nie für etwas kämpfen/Doch es gibt genügend Grund: Auch das "liberale" ...

Hexen, Hebammen und Krankenschwestern wurden im Mittelalter vom Volk Weise Frauen genannt. Die Obrigkeit hieß sie Kurpfuscherinnen. Den Hexenwahn habe ich als Kind noch zu fühlen bekommen. „Rote Haare, Sommersprossen/sind des Teufels Volksgenossen“, rief man mir oft hinterher. Also bin ich wohl eine Hexe, und ich bin es gern. Als Hexe gehöre ich zu den Frauen, die nicht passiv sein können und die sich deshalb oft nahe am Scheiterhaufen befinden. Ich gehöre zu den Mütterlichen, die eine tiefe Zuneigung zu Kindern empfinden. Mein Standpunkt bis 1983 war klar: Niemals lasse ich mir ein Kind aus dem Bauch holen. Zwei Kinder kamen zur Welt. Das dritte mußte ich aus gesundheitlichen Gründen abtreiben lassen. Ich wollte dieses Kind.

Die Selbsterfahrung meines Abbruchs war schmerzhaft und demütigend. Ich tat etwas, was erlaubt war, was jeder Frau in der DDR vom Gesetzgeber zugestanden wurde, und doch kam es mir vor, als würde ich etwas Strafbares tun. Angst, Einsamkeit und eine große Trauer empfand ich während der drei Tage, die ich in der Klinik liegen mußte. Als ich mich körperlich erholt hatte, begann ich, die Situation zu hinterfragen. Ich bemerkte, daß Frauen ihre Schwangerschaftsabbrüche verschwiegen. Noch schlimmer: Es gab - wie übrigens charakteristisch für die DDR - überhaupt keine Öffentlichkeit. Ich wollte es öffentlich machen. „Das ist“, sagte mir ein Gynäkologe, „ein brisantes Thema, ein zutiefst gesellschaftspolitisches. Ich glaube nicht, daß man dulden wird, es öffentlich zu machen. Uns hat man nicht gefragt, ob wir das Gesetz über den Schwangerschaftsabbruch, also die Fristenlösung, wollten. Wir mußten Interruptionen machen. Wenn nicht, konnten wir uns eine andere Arbeit suchen.“ Soweit der Gynäkologe, zitiert nach meinem Buch Das Abbruch-Tabu, das demnächst erscheinen wird. Es enthält Lebensgeschichten nach Tonbandprotokollen. Zunächst einmal mußte ich selber eine Haltung zum Abbruch finden. Mir half die Begegnung mit einer Frauenärztin, die seit anderthalb Jahren eine gynäkologische Station leitete - mit zwölf bis fünfzehn Aborten pro Tag. „Theoretisch müßte meine Station leer sein“, sagte sie. „Es gibt sichere Methoden der Kontrazeption. Aber Frauen - so um die 35 - verzichten oft auf die Pille. Das habe ich selber durchgemacht. Plötzlich ist eine starke Abneigung da. Aber ich wußte, ich kann schwanger werden. Die Ungewißheit verspannte mich völlig. Immer hatte ich Angst vor einem nicht gewollten Kind. Ein drittes Kind bei meinem Beruf wäre eine Wahnsinnsbelastung.“

Zwei Jahre standen wir in Kontakt, und es brauchte Zeit, bis sie einwilligte, das zu veröffentlichen, was sie mir von ihrem bedrückenden Alltag in der Abtreibungsfabrik anvertraute. Die ständige Angst, die Gebärmutter verletzen zu können; der Streß eines 48-Stunden-Dienstes; keine Freude am Fach der Einseitigkeit wegen.

Halbherziges DDR-Gesetz

Bei der Abtreibung werden Frauen sozial und gesellschaftlich allein gelassen. Sie erleben die Doppelbelastung, Täter und Opfer zu sein. Zahlen wurden nie veröffentlicht. Kirchliche ÄrztInnen äußerten: 1984 kamen 228.135 Kinder zur Welt, und 112.000 wurden abgetrieben. Auf 100 Lebendgeborene rechnet man 49 abgetriebene Kinder. Die Abtreibungszahlen steigen kontinuierlich an. Besonders bei den 16- bis 18jährigen. Am 9. März 1972 wurde von der Volkskammer der DDR das „Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft“ beschlossen. Es sagt aus, daß bis zur 12. Woche jede Frau das Recht hat, eine Schwangerschaft abbrechen zu lassen. Nach der 12. Woche ist eine Interruption unzulässig; desgleichen, wenn eine Frau vor weniger als sechs Monaten bereits einen Abbruch vornehmen ließ.

Der Begriff Unterbrechung ist Heuchelei, denn: Was unterbrochen wird, kann man gegebenenfalls auch wieder fortsetzen. Einen Abbruch nicht. Aber Schwangerschaftsabbruch - das klingt so negativ, und das Wort Abtreibung, das bei uns kaum jemand nutzt, klingt nach etwas Kriminellem. In der Gesetzesformulierung steckt also die Halbherzigkeit, mit der uns das Recht auf Selbstentscheidung zugesprochen wurde. In der Praxis wurde das zum Problem. Bis heute sind weder die Frauen noch die Ärzte zu einer bewußten Haltung gekommen.

Papst Pius IX. kam 1869 auf den Einfall, die Abtreibung sei Mord, weil die Beseelung des Fötus bereits vor der Geburt eintrete. Auch in der DDR hat diese juristisch-moralische Wertung noch heute ihre Bedeutung. Frauen verschweigen den Abbruch - aus Angst, ihr Gesicht zu verlieren. Ärzte geben ihrem Flehen nach und vertuschen den Eingriff mit einer falschen Begründung auf dem Krankenschein. KollegInnen heben den Zeigefinger, wenn sie hören, eine hat abgetrieben. Unsere scheinbar so fortschrittliche Gesetzgebung bedeutet für uns: Schuldgefühle, Demütigung, Alleinsein beim Suchen der richtigen Entscheidung. Einsam läßt die Frau abtreiben und kann sich nicht einmal damit auseinandersetzen. Sie nimmt hin und tut es wieder.

Durch permanentes Verschweigen all dessen, was mit der Abtreibung zusammenhängt, kam es zum Vertrauensschwund zwischen Frauen und Ärzten und zu Spannungen zwischen denen, die den Eingriff ausführten. Unausgesprochen war und ist im kulturellen Ideal der lebensschenkenden Mutter die Anschuldigung verborgen, daß sie tötet, wenn sie abtreibt. Der Arzt ist gemäß hippokratischem Eid zum Heilen und Helfen berufen; greift er in eine gesunde Schwangerschaft ein, vernichtet er Leben.

Eine Endvierzigerin, Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, erzählte mir: „Als Studentin bekam ich ständig zu hören, die Abtreibung sei ein schlimmes Vergehen für Ärzte. Obwohl die Kliniken voll von durch Pfuscher behandelte und sterbende Frauen waren. Die Verzweiflung der ungewollt Schwangeren interessierte niemanden.“

Angst in der

Abtreibungsfabrik

Auch heute interessiert niemanden, was in den Frauen vorgeht, wenn sie von ÄrztInnen beschuldigt werden, leichtsinnig zu sein, weil sie nicht eigenverantwortlich verhüten.

Aus Angst treiben noch immer Frauen selber ab, verletzen sich oder fügen dem Fötus Schaden zu. Weitgehend unbekannt sind die möglichen Nebenwirkungen jahrzehntelanger Einnahme hormoneller Verhütungsmittel - vom Bartwuchs bis zur Genveränderung. Stillschweigend schafften Ärzte die Pillenpause ab, die man zum Schutz für den weiblichen Organismus vorgesehen hatte - weil die Frauen in dieser Pause oft schwanger wurden, und die Ärzte wollten die Zahl der Interruptionen nicht weiter ansteigen lassen.

Ich habe keine Frau getroffen, die zur Abtreibung ohne Einwände Ja sagte. Immer waren sie voller unausgelebter Schuld, voller Trauer und Verzweiflung. Die Menschen in der DDR sind in einem erschreckenden Maß unaufgeklärt. Sie wissen kaum etwas über ihren Körper und schon gar nichts über ihre Psyche. Frauen wurden und werden noch immer zu Verhütungsapparaten gemacht. Sie sollten funktionieren, wie alles in diesem Staat auf Funktionalität kontrolliert wurde

-was, wie bekannt, nicht dazu führte, daß es funktionierte, nicht bei der Technik und schon gar nicht bei den Menschen. Die Ich-Verkrüppelung ist noch unüberschaubar. Mit 350 oder, der anderen Quelle zufolge, 490 Abtreibungen auf tausend Lebendgeborene steht die DDR genauso an der Weltspitze wie bei der Zahl der Ehescheidungen. Das Karussell der gesellschaftlichen Widersprüche dreht sich an dieser Stelle sehr deutlich.

Vor kurzem haben wir uns aus der erstarrten Enge und der ständigen Bespitzelung durch die Staatssicherheit befreit und sind in ein bodenloses Loch von Orientierungslosigkeit gefallen. Unsere Persönlichkeiten wurden unterdrückt, und nun fordert man plötzlich von uns, als Person aufzutreten und zu reagieren. Damit sind die meisten überfordert.

Eine Westdeutsche fragte, warum sich die errungenschaftsverwöhnten DDR-Frauen in der Debatte um die Abtreibungsfrage im deutsch-deutschen Einigungsprozeß derart leise verhalten. Die Antwort ist: Wir haben niemals für etwas kämpfen dürfen. Wir hatten niemals ein Mitspracherecht. Die hervorragenden sozialen Errungenschaften wurden vom Übervater Staat als kollektive Zuchtanstalten mißbraucht. Wir waren Staatseigentum. Die Zeit der Selbstbefreiung war noch nicht gekommen. Und derzeit sorgen sich die meisten - und nicht grundlos - eher um die Arbeitsplätze als um die vorgeblichen Errungenschaften. Die Frauen in der BRD mußten um ihre Rechte kämpfen. Seit 1968 begann dadurch eine Bewußtseinsbildung. Um die sind wir ärmer, wenngleich es scheint, als wären wir reicher, was die Verwirklichung der Selbstbestimmung angeht. Ich fürchte, die meisten haben noch gar nicht erkannt, worum es derzeit geht.

Unglaubliche Kontroverse

Wie auch immer: Ich fordere die ersatzlose Streichung der Abtreibungsparagraphen, des antiquierten 218 sowieso, aber auch unseres eigenen. Die Geburten müssen in eigener Verantwortung und ohne Beratungszwang geregelt werden. Das Strafgesetz ist nicht geeignet, ungeborenes Leben zu schützen. Seine Anwendung führt nur dazu, daß auch das Leben von Frauen gefährdet wird.

Weitere Forderungen und Überlegungen:

-Der Schwangerschaftsabbruch sollte aus dem Klinischen ins Ambulante verlagert werden; schließlich ist der Eingriff keine Krankheit. Dazu wäre ein eng geknüpftes Netz ambulanter Abbruchzentren mit optimalen medizinischen Bedingungen einzurichten. Frauen sollten frei und zum frühestmöglichen Zeitpunkt in einer angenehmen Atmosphäre abtreiben können. Auch Sterilisation muß dort möglich sein. In diese Zentren sind Beratungsbereiche einzugliedern; Für Problemfälle sollten Psycholog(Inn, d. Korr.in)en zur Verfügung stehen. Daß Ausländerinnen nicht anders behandelt werden dürfen als Inländerinnen, versteht sich von selbst.

-In den Schulen sollte ein Fach eingerichtet werden, in dem Körper, Sexualität, Fruchtbarkeit, Partnerschaft und Verhütung den Kindern so früh wie möglich nahegebracht wird.

-Minderjährigen sollte ein Mitspracherecht über das Austragen oder den Abbruch einer Schwangerschaft zugestanden werden. Wenn sie das Kind austragen wollen, müssen sie das Recht auf soziale Hilfe haben, und die Bedingungen für die Hilfe (Heime, Wohnungen für Betroffene) müssen vorhanden sein.

-Es ist zu empfehlen, die Verhütung auf die natürliche Art zu betreiben, zum Beispiel durch den Coitus interruptus (Warum muß es denn unbedingt die Penetration sein?!, d. Korr.in). Generell sollten wir mehr zur Körperlichkeit als zur Chemie finden. Zugleich ist es notwendig, eine breite Palette von Verhütungsmitteln für Frauen anzubieten und endlich ernsthaft Verhütungsmittel für Männer zu entwickeln. Die Vasektomie - die Sterilisation des Mannes muß gesellschaftsfähig gemacht werden; dadurch werden sie nämlich gar nicht impotent, das muß ihnen endlich mal jemand sagen.

-Der Gesetzgeber sollte auch dem Mann das Recht zur Erziehung seiner Kinder einräumen und ihn nicht, wie bisher, der Verantwortung und Pflicht entheben und ihn zur zahlenden Person abstempeln.

Werdendes Leben kann sinnvoll nur geschützt werden, wenn für Lebende ein gesunder Lebensraum vorhanden ist. Die ökologische Vernichtung unseres Planeten läuft auf vollen Touren. Radioaktive Strahlung, ob von Unfallreaktoren oder von Bombentests, zerstört Ungeborene wie Lebende. Die Weltbevölkerung vergrößert sich explosionsartig. Bereits jetzt haben 1,3 Milliarden Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser. Jährlich verhungern 14 Millionen. Die Gewalt gegen Kinder nimmt zu - von Züchtigungen über sexuellen Mißbrauch bis zur Verstümmelung. Babys werden entführt, um als Organspender an US-Organbanken verkauft zu werden. Aber der Papst - es ist übrigens nicht mehr der aus dem vorigen Jahrhundert - verbietet weiterhin die Pille, weil er sich über jeden kleinen Katholiken in Afrika freut, auch wenn viele von ihnen verhungern. Politiker - die männliche Form ist hier bewußt gewählt, denn zumeist sind es Männer -, Politiker behaupten, sich für das ungeborene Leben einzusetzen, dabei nehmen sie sich lediglich das Recht heraus, Frauen zu bevormunden.

Es ist kaum zu glauben, daß hierzulande und anderswo wieder eine Kontroverse um die Abtreibung auflebt. Im Zeitalter der In-Vitro-Fertilisation, des Embryotransfers, der Genmanipulation über das Für und Wider zu streiten, gar die Heiligkeit ungeborenen Lebens zu postulieren, wo doch täglich allerorten dem geborenen Unheil geschieht oder droht, ist lächerlich. Es ist ein Manöver, das von den wirklichen Problemen ablenken soll. Es wird Zeit, daß wir Hexen uns lauter zu Wort melden.

Die Autorin lebt in Potsdam, ist Tanzpädagogin und hat Hörspiele für Kinder und Filmszenarien geschrieben. Demnächst wird ihr Buch Abbruch-Tabu,Geschichten nach Tonbandprotokollen, im Ost-Berliner Verlag „Neues Leben“ erscheinen. Darin sind ihre Gespräche verarbeitet, die sie mit betroffenen Frauen und ÄrztInnen zum Thema Abtreibung geführt hat.