„Die Fische brauchen auch mal Ruhe“

■ In Ketzin arbeiten die Fischer wie vor 100 Jahren / Überalterung, Abwässer und Schiffahrt bedrohen den traditionellen Berufsstand / Jetzt fanden die Potsdamer Behörden auch noch PCB in den Havelaalen aus Ketzin und Werder

Ketzin. „Pussi!“ - trotz seiner 61 Jahre wird Willi Bethke im Havelstädtchen Ketzin nicht anders als mit diesem Spitznamen gerufen. „Ich hab‘ es eben so mit den Katzen“, lächelt der weißhaarige Mann. Mehr noch als mit den geschmeidigen Vierbeinern hat es Bethke freilich mit einer anderen, schlüpfrigen Tiergattung. Bethke ist nämlich einer der drei Fischer, die die alte Fischerstadt Ketzin heute noch hat. „Wie vor hundert Jahren“ pflegen sie ihren Beruf nur die alten Baumwollnetze wurden in den 50er Jahren durch Perlongewebe ersetzt, und die schmalen Kähne treiben nun lärmende Dieselmotoren an.

Die Männer von der Havel waren republikweit stets die besten Fänger. Bis zu 30 Kilo Fisch pro Hektar lieferten die Ketziner ab; der DDR-Durchschnitt liegt bei fünf bis acht Kilogramm. Mit der industriemäßigen Karpfenmast in Hälterkäfigen auf der Havel und mit der Forellenproduktion in Zuchtteichen machte die Brandenburger Produktionsgenossenschaft, der die Ketziner angeschlossen sind, stets Verluste, berichtet Bethke. Immer wieder mußten Fische zugekauft werden, weil die einseitig mit Preßfutter ernährten und auf engstem Raum zusammengesperrten Käfigkarpfen massenhaft weggestorben seien.

Bethke und seinen Ketziner Kollegen blieben dank ihrer traditionellen Methoden solche Schläge erspart. Für 900 Mark Monatslohn mußten sie dafür eine 60-Stunden-Woche auf sich nehmen und jeden Tag, auch am Samstag, auf die Havel schippern, um die Reusen und Netze zu leeren. Nur im Winter, wenn die Havel zugefroren ist, bleibt Bethke zu Hause, repariert die Netze und fährt auch mal zwei Wochen in Urlaub. Der Aal wühlt sich unterdessen in den Schlamm und hält Winterschlaf. Da sollte man ihn nicht stören, meint Bethke: „Die Fische müssen auch mal Ruhe haben.“

Etwa 30.000 Aale gehen den Ketzinern und ihren Kollegen im benachbarten Deetz jedes Jahr ins Netz. Daneben fangen sie vor allem Karpfen, Hecht, Zander und Schlei. Vor acht Jahren bekamen die angestammten Havelbewohner neue Genossen: Marmor -, Silber- und Graskarpfen, die mit dem Ziel der Ertragssteigerung aus der UdSSR und China eingeführt wurden. „Die sehen auch so aus“, lacht Bethke, „richtig mit Schlitzaugen.“

Aber auch der Import aus dem Fernen Osten konnte in den letzten Jahren die selbstproduzierten Handicaps nicht mehr ausgleichen: Abwässer und die Bugwellen der Transitschiffe dezimierten den Schilfgürtel an den Ufern und nahmen den Fischen damit einen geschützten Ort für ihren Laich. Seit Jahren hat Bethke kein Hochwasser mehr erlebt, das die Hechte zum Ablegen ihrer Brut brauchen: Die Obstplantagen im nahen Werder holten immense Wassermengen aus der Havel, und wenn sich der Fluß trotzdem mal der Hochwassermarke näherte, pumpte die Wasserwirtschaftsdirektion in Tagesfrist das Wasser wieder ab, um die allzu ufernah gebauten Bungalows einflußreicher Herren in Brandenburg zu schützen. Folge des Eingriffs: Die Hechtbrut in den urplötzlich wieder entwässerten Wiesen trocknete aus. „Ich habe gestaunt, daß es trotzdem noch Fische gab“, meint Bethke.

Früher, erinnert sich Willi Bethke, lebten sieben Fischer in der Fischerstraße in Ketzin, heute ist er der einzige. Seine beiden Ketziner Kollegen sind ähnlich betagt wie er: Nicht die Fische, sondern die Fischer sterben langsam aus. Wenige Jahre vor dem Rentenalter droht den Fischern nun durch den Umbruch in der DDR neue Gefahr. Daß sie ab dem 1. Juni von der Brandenburger Produktionsgenossenschaft getrennt werden und wie bis 1960 wieder auf eigene Rechnung fischen müssen, das wird Bethke wohl bewältigen. Größere Sorgen müssen ihm Untersuchungen bereiten, die seit Jahresbeginn das Potsdamer Bezirksinstitut für Veterinärwesen anstellt: Die Fachleute ließen die Havelfische auf Schadstoffe hin untersuchen - und wurden prompt fündig. Die Aale, die in Ketzin und bei Werder aus dem Fluß gezogen wurden, enthielten leicht überhöhte Konzentrationen der giftigen Polychlorierten Biphenyle (PCB).

Voreilige Schlüsse will Institutschemiker Michael Volland nicht ziehen; er will zunächst die Probennahme fortsetzen und auch auf andere Fischarten ausdehnen. Wann und ob es zu einem Verkaufsverbot kommt, ist abzuwarten. Die Fische aus den Potsdamer Seen, obwohl am nächsten an der Westberliner Kloake Teltowkanal dran, blieben überdies bisher unter den Grenzwerten. In Ketzin hat der Chemiker dagegen die mit Westberliner Giftmüll beschickte Deponie Vorketzin als Schadstoffquelle im Verdacht und in Werder eine bei Golm gelegene Hausmüllkippe.

Marlies Oettel, Sprecherin der Ketziner „Bürgerinitiative 89“ machte die Untersuchungsergebnisse jetzt im Städtchen bekannt - zu Bethkes heller Empörung: Die Fische selbst seien schließlich springlebendig - und bisher habe sich doch auch keiner um die Gifte gekümmert. Dem Fischer bleibt die Hoffnung, daß seine Mitbürger in der zur Zeit herrschenden „Hektik“ Oettels Giftalarm rasch wieder vergessen. Lieferungen ins sensiblere West-Berlin plant der Fischer sowieso nicht. Lediglich Teich-Forellen aus dem Fläming, so Handelsleiter Manfred Spieler von der Brandenburger Genossenschaft, seien in der Vergangenheit bis in die Mauerstadt exportiert worden - und für die hätten die westlichen Großhändler stets ein veterinärmedizinisches Zertifikat verlangt. Aale aus der Havel habe die PGB nur einmal in den Westen verkauft - 1989 ging eine Lieferung nach Hamburg.

hmt