Bei Lenin im Abteil

■ Emil Belzners „Die Fahrt in die Revolution“ neu aufgelegt

Michael Schweizer

Emil Belzners vorletztes Buch Die Fahrt in die Revolution oder Jene Reise erschien 1969. Darin berichtet er als Ich -Erzähler nach über fünfzig Jahren von einer denkwürdigen Zugfahrt, die er im April 1917 unternommen hat. Der Bruchsaler Gymnasiast, noch nicht sechzehnjährig, arbeitet als Hilfsdienstfreiwilliger auf dem Rastatter Bahnhof, als auf einem Nebengleis ein Sonderzug abgestellt wird. Bei den Passagieren soll es sich um ehemalige sibirische Sträflinge handeln, die jetzt nach Rußland zurückwollen. Das Exotische interessiert den Schüler, er öffnet mit einem Vierkantschlüssel die verschlossene Tür und steht in dem Salonwagen, in dem die deutsche Reichsregierung Lenin und seinen engsten Kreis nach Rußland expediert, um den Kriegsgegner zu destabilisieren.

Der Eindringling darf ein paar Stunden mitfahren, und Lenin, dämonisch wirkend, aber hochrational und schier allwissend, munitioniert ihn „nicht ohne Güte und Sorge„ für ein neues Leben. Bisher hatte der Pennäler ein angenehm belangloses Kriegspubertandendasein geführt zwischen Schulödnis und sexuellem Ersatzdienst bei grünen und schwarzen Kriegerwitwen (beides hat auch der zwei Jahre vor Belzner geborene Erich Kästner bedichtet); als er in Frankfurt aus dem Zug steigt, fühlt er zum erstenmal das Glück der Ernsthaftigkeit - und sich selbst als Revolutionär. Freilich ist er weltanschaulich fast genausowenig Leninist wie sein scharf kirchenkritischer, aber gläubiger Autor. Aber ihn bezwingt die Persönlichkeit dessen, der eine große Idee entwickelt und jeden Einsatz bringt, um sie zu verwirklichen. „Unerbittliche Energie spürte ich hinter diesem geschlossenen Auge, das sich jetzt öffnete und Radek anblinzelte, der verlegen hüstelte.„

Die Begegnung mit Karl Radek, der in den zwanziger Jahren nach Berlin ging, um die KPD zu organisieren und der nach einem stalinistischen Schauprozeß wohl 1938 in Sibirien starb, ist für den jungen Belzner so folgenreich wie die mit Lenin. Durch das Buch zieht sich eine Literaturdiskussion, in der Lenin für die schon entwickelten bürgerlichen Literaturformen eintritt: „Die bisherigen Macharten der Kunst bieten Spielraum genug, sich als ein Freund des Fortschritts zu bekennen. Lest doch Gorki. Dazu bedarfs nicht leerer, gestaltloser Formalistik.„ Dem setzt Radek seine „Nachrichten-Belletristik“ entgegen: „Eine Mischung zwischen Thukydides, Voltaire und Mark Twain, mit einem Schuß Kitsch und Firlefanz. (...) Etwas Anarchisches geht aller Revolution voran. (...) Alles muß vorher abstrakt werden, fragwürdig, abstoßend, wirklichkeitsfremd, bevor es zu neuer Gestalt aufsteht.„ In diesem Sinn erzeugen Belzners beste Arbeiten eine ungewöhnliche und sehr anziehende Atmosphäre: Detaillierte, nüchterne Beschreibungen des alltäglichen Unheils mischen sich mit hochsuggestiven Passagen, die den Leser vom unmittelbar Beobachtbaren wegreißen.

Vielleicht wären Belzner die letzteren nie geglückt, wenn er auf jener Reise nicht auch Ines Armand kennengelernt hätte. Lenins schöne, geheimnisvoll wirkende Geliebte lockt den jungen Mann in wenigen Stunden und ohne Handgreiflichkeiten in den mächtigen Erotismus, der seine literarischen Gestalten umtreibt. Wie bei Simenon sind sich Frauen und Männer zunächst einmal als mögliche Liebschaften interessant oder uninteressant. Nur im Geschlechtsakt kann man sich richtig kennenlernen. Das gilt für alle mit allen, so daß die Liebe als unpersönliche Allmacht erscheint. Die langdauernden Beziehungen zwischen zwei Menschen, die in Belzners Büchern trotzdem immer wieder eine wichtige Rolle spielen, sind von irrationaler Hingabe bis zur Lust am Leiden gekennzeichnet. „In diesem Augenblick, nur ganz kurz, hatte ich mir gewünscht, der Dämon möchte aufspringen und mich erstechen. Kaum gewünscht, schon wieder nicht gewünscht, denn diese Frau hatte mich auf jener kurzen Reise ja eigentlich erst zum Leben erweckt. Totgestochenwordensein und weiterleben, das hätte mir gepaßt.„ Und an anderer Stelle: „Hätte ich ihre bloße Brust gesehen, ich hätte in jenen inspirativen Momenten wahrscheinlich die ganze Sachlage der Welt und den Schöpfungsprozeß des Menschen überblickt - nicht nur, wie er gemacht wird, sondern auch: was er machen wird.„ Das ist eine Schlüsselstelle: Revolution (Lenin) und Kunst (Radek) werden von der Erotik umschlossen und zu ihrer vollen Kraft gebracht. Ines Armand, die in keinem anderen Buch Belzners vorkommt, ist eine Zentralfigur seines ganzen Werks.

Drei geschichtsbildende Kräfte abgeleitet von drei großen Menschen, die man persönlich kennengelernt hat: Es ist einfach, Belzners Geschichtsbild zu kritisieren. Produktiver ist die Frage, ob die Zuordnung, die er vornimmt, glaubwürdig ist. Sie ist es ganz sicher, wenn aus der Fähigkeit, mitreißend zu schreiben, auf die Wahrhaftigkeit des Schreibenden geschlossen werden kann. Emil Belzner (1901 bis 1979) hatte und hat bekannte Fürsprecher: Alfred Kantorowicz, Ludwig Marcuse, Karlheinz Deschner, Erasmus Schöfer. Trotzdem ist er heute als Schriftsteller fast vergessen. Sehr zu Unrecht; wer sich davon anhand der neu aufgelegten Fahrt in die Revolution überzeugt hat, wird gerne Belzners andere Arbeiten in den Bibliotheken aufsuchen. Er wird die Versepen Die Hörner des Potiphar (1924) und Iwan der Pelzhändler (1929) finden, fünfhebige Jambenverse und damit ziemliche Unika in der Literatur der zwanziger Jahre; ferner den seinerzeit stark beachteten pazifistischen Roman Marschieren - nicht träumen (1931) und den herrlich unhistorischen Kolumbus vor der Landung (1934). Ich bin der König (1940) hatte raschen Erfolg und wurde schnell verboten, da die um den prinzipiellen Gegensatz von Macht und Recht kreisende Handlung nur tarnungshalber in England und im 17. Jahrhundert spielt. Auch der Sizilienroman Der Safranfresser (1953) erörtert zwischen den Zeilen die fatale Anziehungskraft der gerade überstandenen Diktatur. Ganz anders Glück mit Fanny (1973), eine heitere und warmherzige Liebeserklärung des großen Katzenfreundes an seine Haus- und Gartentiere.

Belzner wurde in Bruchsal als Sohn eines schwäbischen Messerschmieds geboren. Wenige Wochen nach Jene Reise verließ er vorzeitig die Schule, um Schriftsteller zu werden. Als Feuilletonchef hatte er einen sehr guten Namen: Seit 1924 beim 'Stuttgarter Tagblatt‘, dann bei der 'Badische Presse‘ in Karlsruhe und der 'Neue Badische Landeszeitung‘ in Mannheim, die 1934 von den Nazis geschlossen wurde. Nach Ich bin der König wurde er beinahe verhaftet und mußte sich ohne festen Wohnsitz durchschlagen. 1946 holte ihn Theodor Heuss zur Heidelberger 'Rhein-Neckar-Zeitung‘, deren damals hervorragenden Ruf er mit scharf antirestaurativen politischen Glossen begründete. 1969 setzte man ihm dort den Stuhl vor die Tür, als er im lokalen Streit die Partei der rebellierenden Studenten ergriff.

Belzner paßt in kein Schema: Er war revolutionär und wertkonservativ, christlich und kirchenfeindlich, Erotiker und Lutheraner, weltoffen und gesinnungsschwäbisch. Und er hegte gegen den Literaturbetrieb nicht nur einen unverbindlichen Haß, sondern mied ihn wirklich. Auch das macht ihn mir sympathisch.

Emil Belzner: Die Fahrt in die Revolution oder Jene Reise. dtv-Verlag, München 1990, 9.80 DM