: Mandat nur für Unabhängigkeit
Kazimiera Prunskiene: Gefahr des Scheiterns der Perestroika wird zu sehr dramatisiert ■ I N T E R V I E W
taz: Frau Prunskiene, was führt Sie auf den Katholikentag?
Prunskiene: Für mich ist es wichtig, mit Menschen gleichen Glaubens zusammenzukommen und die Verbindung der Katholiken Litauens mit der katholischen Welt zu festigen. Die katholische Kirche Litauens unterstützt die Sache der Unabhängigkeit, sie erzieht zur Geduld, weckt Vertrauen und trägt dazu bei, die Menschen bei uns im seelischen Gleichgewicht zu halten. Vor meiner Abreise sprach ich mit unserem Kardinal, von dem ich Dank übermittle und die Bitte, die Unabhängigkeitsbewegung Litauens weiter zu unterstützen. Ich meine nicht in erster Linie materielle Hilfe, sondern moralische, menschliche und auch politische. Die Sowjetunion muß dazu gebracht werden, von ihrer starren Position abzugehen und endlich zu verhandeln.
Anläßlich seiner jüngsten Mexiko-Reise hat der Papst vor einem zu schnellen Tempo beim Kampf um die Unabhängigkeit der baltischen Staaten gewarnt.
Wir haben lange Jahre gewartet, und unser erstes frei gewähltes Parlament hat das getan, wozu es von unserem Volk beauftragt wurde. Aber mit der Unabhängigkeitserklärung ist noch nicht die volle Unabhängigkeit erreicht. Wir sehen die Schwierigkeiten der Sowjetunion und respektieren ihre Interessen in der Region der baltischen Staaten. Deshalb haben wir eine Übergangsperiode vorgeschlagen, in der wir die Unabhängigkeit auch de facto erreichen werden. Wie lange das dauern wird? Ein, zwei Jahre oder auch länger. Das wird nicht nur von uns abhängen, sondern auch von der Entwicklung des demokratischen Prozesses in der Sowjetunion und Osteuropa und von der Art und Weise, wie sich die westlichen Länder zu diesem Prozeß verhalten. Auf alle Fälle gehen wir nicht überstürzt vor.
Der sowjetische Ministerpräsident Ryschkow hat soeben Ihren Vorschlag zurückgewiesen, die Wirkung der umstrittensten Gesetze auszusetzen, die seit der Unabhängigkeitserklärung vom litauischen Parlament angenommen worden sind. Was nun?
Dieses hastige Nein ist bestimmt nicht das letzte Wort aus Moskau. Bei den Verhandlungen zwischen Gorbatschow und Bush wird die Frage der baltischen Länder thematisiert werden. Wie bestimmt er und andere westliche Staatsmänner und -frauen auftreten, wird nicht ohne Einfluß auf die sowjetische Haltung sein. Wir haben noch weitere Kompromißlinien im Kopf, ich habe einige Entwürfe ausgearbeitet, die ich nach meiner Rückkehr aus dem Westen der Sowjetunion vorlegen werde. Es gibt noch Chancen.
Die Unabhängigkeitserklärung selbst einzufrieren, kommt für Sie nach wie vor nicht in Frage?
Dafür haben wir kein Mandat. Für einen solchen Schritt wäre eine breite Aussprache unter der Bevölkerung notwendig, einschließlich eines Referendums. Unsere Aufgabe war, die Unabhängigkeit zu erklären, nicht, sie auszusetzen.
Wie groß ist die Gefahr, daß Gorbatschow Litauen unmittelbar dem Präsidialregime unterstellt?
Passieren kann auch das. Wir haben Gorbatschow nicht zum Präsidenten gewählt, haben an seiner Wahl nicht teilgenommen. Unsere Unabhängigkeit wurde vor diesem Termin erklärt. Ich möchte Sie daran erinnern, daß die Rechtmäßigkeit unseres Vorgehens sich davon ableitet, daß wir die Annexion unseres Landes durch die Sowjetunion 1940 nicht anerkennen. Was jetzt in Moskau beschlossen wurde, gilt für uns einfach nicht. Ein Notstandsregime in den baltischen Staaten wäre ein Willkürakt, der auch bei Ihnen nicht unwidersprochen bliebe.
Jetzt die unvermeidliche Frage, ob Ihre Politik nicht Gorbatschow in einem Augenblick schwächt, wo er sowieso schon in den Seilen hängt.
Diese Gefahr wird bei Ihnen zu sehr dramatisiert. Gorbatschow hat sich auch dadurch in seine jetzige, schwierige Lage gebracht, daß er sich weigert, ein Bündnis mit den demokratischen Kräften einzugehen. Er balanciert, manövriert. Jetzt ist er eingeklemmt zwischen Konservativen und Progressiven. Für ihn gibt es auch ein psychologisches Problem. Er hat die Perestroika für sich monopolisiert, hält sie fest in der Hand wie einen Laib Brot, von dem er nach Gutdünken Scheiben für die Kinderchen abschneidet. Wir haben diese Art von angemaßter Fürsorge satt.
Was ist von den Hilfsaktionen der demokratischen Kräfte in der russischen Föderation zu halten?
Seit Jahren haben wir gute Kontakte zu den russischen Demokraten, zu Popow und Stankiewitsch in Moskau, zu den Leningradern. Wir haben zusammen an den demokratischen Reformprojekten gearbeitet, die sie jetzt so energisch durchsetzen. Aber Gorbatschow ist gegen sie.
Konkrete Hilfe?
Die Moskauer sind damit vorsichtig, denn alles spielt sich unter den Augen des Kreml ab. Im Mossowjet haben die Demokraten äußerst scharf gegen das Embargo Stellung bezogen und die Frage gestellt, wer für die Folgen dieser Maßnahme die Verantwortung tragen wird. Jetzt sprechen wir mit den Moskauern über die Zukunft der Wirtschaftsbeziehungen zwischen den russischen Großstädten und Litauen. Moskau erhält mehr als die Hälfte des Fleisches, das Litauen an die Sowjetunion liefert, 100.000 Tonnen jährlich, dazu Milchprodukte, Lebensmittelkonserven. Wenn die Blockade fortdauert, werden wir Schwierigkeiten haben, weiter zu liefern. Die Situation ist wirklich paradox. Vor dem ersten Mai kamen die Güterwagen leer nach Litauen, weil die sowjetische Regierung es so wollte. Wir hingegen haben unsere Verpflichtungen eingehalten - aus Solidarität und wohlverstandenem Interesse. Wir sagen: Das ist nicht Fleisch für die sowjetische Regierung, sondern für Popow und Stankiewitsch (lacht).
Was erwarten Sie von den westlichen Regierungen?
Zweierlei. Wir wollen natürlich keine Sanktionen, die sowieso nur das sowjetische Volk treffen würden. Aber Blockade gegen Litauen einerseits und Meistbegünstigung des sowjetischen Außenhandels andererseits - das geht nicht zusammen. Zum zweiten wäre eine Unterstützung wünschenswert, die die Sowjetunion endlich zur Aufnahme gleichberechtigter Verhandlungen drängt.
Ihr Urteil über die gemeinsame Initiative Kohl-Mitterrand?
Sie ist nützlich, weil sie die Notwendigkeit von Verhandlungen und Kompromissen betont. Wenn Kohl und Mitterrand sagen, beide Seiten müßten an den Verhandlungstisch, dann liegt darin wenigstens zum Teil eine Anerkennung Litauens als Völkerrechtssubjekt. Die Bedeutung des Zeitfaktors ist uns klar. Die Sowjetunion kann beispielsweise ihre Truppen nicht von heute auf morgen aus Litauen abziehen. Deshalb sind wir ja für eine vertraglich zu vereinbarende Übergangsperiode. Mitterrands und Kohls Initiative gehen in diese Richtung. Es wäre natürlich übertrieben, zu behaupten, ich freute mich, daß die westlichen Länder so zurückhaltend sind bei der Anerkennung Litauens. Die kanadische Regierung beispielsweise hat uns erklärt, sie würde uns in dem Augenblick anerkennen, wo wir die volle Kontrolle über unser Staatsgebiet ausübten. Wenn es danach ginge, müßten die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion eigentlich abgebrochen werden, denn verglichen mit den Zuständen in der Sowjetunion üben wir wirklich die Hoheit über unser Territorium aus.
Ist Kohls Mahnung zur Vorsicht nicht die Folge seiner Deutschland-Politik, will er dadurch nicht Gorbatschow günstig stimmen für seinen Fahrplan zur Einigung?
Wir verstehen die Probleme, die durch die Rechte der Sowjetunion in Deutschland aufgeworfen werden und die damit zusammenhängende Zurückhaltung der deutschen Seite. Für mich hängt die deutsche Frage eng mit den Unabhängigkeitsbestrebungen der baltischen Staaten zusammen. Geschichtlich ist das klar, denn schließlich hat der Hitler -Stalin-Pakt den baltischen Völkern die Freiheit gekostet. Alle Länder Mittel-, Ostmittel- und Osteuropas haben ein gemeinsames Interesse daran, ihre freie Selbstbestimmung wiederzuerlangen. Es gibt aber eine spezielle Parallele dahingehend, daß beide Prozesse - die Unabhängigkeit Litauens wie die Einheit Deutschlands - in Etappen und im Konsens verwirklicht werden müssen.
Interview: Christian Semler
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