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Der Staatsvertrag verstößt gegen das Grundgesetz

Der Artikel 9 und die Unterwerfung des Parlaments unter die Exekutive  ■  D O K U M E N T A T I O N

Da es mit der deutschen Einheit ganz schnell gehen muß, haben - wie wir immer wieder erfahren müssen - rechtliche oder gar verfassungsrechtliche Bedenken wenig Gehör und noch weniger Chancen. Dennoch muß dem geneigten Publikum allenthalben die Mühe zugemutet werden, sich auch mit einer trockenen Argumentation zu beschäftigen, wenn es nicht völlig überrascht werden will von dem verfassungsrechtlichen Scherbenhaufen, der auch eine Nebenfolge des Einigungstempos sein kann. Nicht nur durch die rasende Eile und durch die Institutionalisierung der deutsch-deutschen Geheimverhandlungen hat sich die Exekutive eine politische Vormachtstellung gegenüber der Legislative erworben. Auch der Vertragstext des Staatsvertrages sieht einen Artikel vor, der die parlamentarische Kontrollfunktion, die das Grundgesetz (GG) bindend vorschreibt, außer Kraft setzt. Erstaunlich, daß die Heerschar der juristischen Experten in den Fraktionen die Pferdefüße im Lauf der letzten Wochen nicht entdeckt hat. Mit Verabschiedung des Staatsvertrages sind jedenfalls die Bundestagsfraktionen in der ungemütlichen Lage, den Weg nach Karlsruhe anzutreten, wenn sie die Rechte des Parlaments wahren wollen - um den Preis, das Inkrafttreten des Staatsvertrages zu verhindern. Der folgende Text entspringt einem Gutachten der AL-Fraktion in West-Berlin.

Wirksam wird er gemäß seinem Artikel 38 „an dem Tage, an dem die Regierungen der Vertragsparteien einander mitgeteilt haben, daß die erforderlichen verfassungsrechtlichen und sonstigen innerstaatlichen Voraussetzungen für das Inkrafttreten erfüllt sind“. Geplant ist der 1. Juli. Bis dahin muß der Bundestag (nachdem der Bundesrat zugestimmt hat) das für die Umsetzung in bundesdeutsches Recht erforderliche Ratifikationsgesetz verabschiedet haben. Das sollte er bleiben lassen, denn Artikel 9 des Staatsvertrages ist verfassungswidrig. Er lautet: „Erscheinen Änderungen oder Ergänzungen dieses Vertrages erforderlich, um eines seiner Ziele zu verwirklichen, so werden sie zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik vereinbart.“

Da die Selbstverständlichkeit, daß Verträge einvernehmlich geändert oder ergänzt werden können, keiner extra vertraglichen Vereinbarung bedarf, liegt die Betonung in Art. 9 offensichtlich auf “...der Regierung...“.

Das ist nichts anderes als eine Ermächtigung für die Regierung weitere Regelungen auszuhandeln, die die Bundesrepublik und die DDR völkerrechtlich binden, ohne daß das Parlament vorher noch einmal gefragt werden müßte. Ob dies - für die Bundesrepublik - zulässig ist, ergibt sich aus Art. 59 II des GG, der die Rolle des Parlaments im Hinblick auf Staatsverträge definiert. Art. 59 II bestimmt: „Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, bedürfen der Zustimmung oder der Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes.“ Daß der Staatsvertrag zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zu den in Art. 59 II GG angesprochenen Verträgen gehört, ergibt sich aus folgendem: Verträge regeln nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts dann „politische Beziehungen des Bundes“, wenn sie „wesentlich und unmittelbar den Bestand des Staates oder dessen Stellung und Gewicht innerhalb der Staatengemeinschaft oder die Ordnung der Staatengemeinschaft betreffen“. Daß der Staatsvertrag dies tut, kommt bereits in seiner Präambel zum Ausdruck, wo es heißt, er sei „ein erster bedeutsamer Schritt in Richtung auf die Herstellung der staatlichen Einheit“. Darüberhinaus bezieht sich der Staatsvertrag auch auf „Gegenstände der Bundesgesetzgebung“. Solche sind nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts immer dann berührt, wenn zur innerstaatlichen Durchführung ein Gesetz erforderlich ist. Der Staatsvertrag verpflichtet die BRD, eine ganze Reihe von Gesetzen zu ändern, zum Beispiel das Bundesbankgesetz, das Kreditwesengesetz und Gesetze im Bereich der sozialen Sicherung. Das geht innerstaatlich nur mit Änderungsgesetzen.

Die Frage, ob der Staatsvertrag gegen das Grundgesetz verstößt, hängt also nur davon ab, ob die in Art. 9 angesprochenen „Änderungen und Ergänzungen“ auch (neben dem eigentlichen Vertragsschluß) unter Art. 59 II GG fallen, oder ob das Parlament insoweit auf seine Mitwirkungsrechte aus Art. 59 verzichten kann. Zunächst ist festzustellen, daß Änderungen oder Ergänzungen nicht anders als der Vertragsschluß selbst behandelt werden dürfen. In der verfassungsrechtlichen Literatur ist es allgemeine Überzeugung, daß - wie es im renommierten Kommentar Ingo von Münchs heißt - die „vertragliche Änderung von Verträgen, die zustimmungsbedürftig waren, ebenfalls der parlamentarischen Zustimmung“ bedarf.

Lediglich die Änderung ganz unbedeutender Klauseln, die selbst in keiner Weise zustimmungsbedürftige Materie tangieren, sei ohne Zustimmung des Parlaments zulässig. Eine Delegation dieses Zustimmungsrechts oder gar ein Verzicht darauf ist wegen der Funktion, die parlamentarische Kontrolle im Rechtsstaat hat, unzulässig. Diesen Grundsatz hat das Bundesverfassungsgericht bereits in einer seiner ersten Entscheidungen (zu den deutsch-französischen Wirtschaftsabkommen) 1952 formuliert: „Die Zustimmung oder Mitwirkung der gesetzgebenden Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes ist ein zwingender und nicht verzichtbarer Sondervorbehalt der Legislative. Diese dem Bundestag vorbehaltene Kompetenz könnte nur im Wege der Verfassungsänderung auf die Bundesregierung übertragen werden.“

Gegen dieses eindeutige und bisher nicht in Frage gestellte verfassungsrechtliche Verbot einer Übertragung von Parlamentsrechten auf die Regierung im Zusammenhang mit Staatsverträgen verstößt die in Art. 9 des Vertrages für eine Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion der Regierung erteilte Blankettvollmacht. Der Einwand, andernfalls würde das Verfahren einer Anpassung der Rechts- und Wirtschaftssysteme von DDR und BRD zu schwerfällig und das Ganze nur aufgehalten, ist vordergründig: Zum einen können Bundestag und Bundesrat ja einen parlamentarischen Beirat einsetzen, der mit der Regierung jeweils kurzfristig notwendige Änderungen und Ergänzungen abstimmen kann, zum anderen leistet sich das Grundgesetz auch an anderen Stellen institutionelle Absicherungen demokratisch-parlamentarischer Kontrolle, auch wenn dies die Regierungsgeschäfte bremst. Wir leben eben nicht in einer Bananenrepublik.

Nach der geltenden Rechtslage ist es nicht möglich, den inkriminierten Artikel durch das parlament schlicht zu streichen. Die entsprechende Vorschrift (§ 82 II der Geschäftsordnung des Bundestages) bestimmt, daß Staatsverträge nur als Ganzes abgelehnt oder angenommen werden können.

Sollte der Bundestag seiner Entmündigung zustimmen und auch einen eventuellen Einspruch des Bundesrates gegen das Staatsvertragsgesetz zurückweisen, so bleibt noch die Möglichkeit, das Bundesverfassungsgericht anzurufen. Diese Befugnis hat jede Fraktion des Bundestages, wie aus § 64 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes hervorgeht, und natürlich jede Landesregierung.

Das Bundesverfassungsgericht hat im Grundlagenvertragsurteil 1973 klargestellt, daß solange ein Klageverfahren gegen einen Staatsvertrag nicht abgeschlossen sei, die Regierung eine Ratifikation des Vertrages - hier: die eingangs zitierte Mitteilung an die Regierung der DDR nicht vornehmen dürfe. Tue sie es dennoch, so müsse sie, sollte der Klage stattgegeben werden, „für die sich daraus möglicherweise ergebenden Folgen einstehen“.

Karlheinz Merkel

Der Autor ist Rechtsanwalt in Berlin

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