: Berlin: Senatsreserven sollen aufgelöst werden
■ Vorratslager als Folge des Kalten Krieges / Die Westberliner wissen nicht, wo die Schätze im Wert von zwei Milliarden Mark lagern / Bisher waren 250 Senatsmitarbeiter damit beschäftigt, die Vorräte „permanent umzuwälzen“ / Flächen für Industrieansiedlungen werden frei
Berlin (dpa) - Rationsscheine für den Lebensmittelbezug, Bremsbeläge für U-Bahnen, Kohle - West-Berlin hatte für Notzeiten reichlich Vorsorge getroffen. Für rund zwei Milliarden Mark stapelten sich Waren, um der „Insel“ ein mehrmonatiges Überleben zu sichern. Nach dem Fall der Mauer wird an die Räumung der riesigen Vorratslager gedacht, die nach der sowjetischen Blockade der Stadt 1948/49 angelegt wurden.
Von den Bürgern weiß bis heute niemand, wo das Gold ist, aus dem Zahnkronen und -brücken für die Berliner gefertigt werden sollten, falls die Stadt erneut auf Land-, Wasser und Schienenwegen vom Bundesgebiet abgeschnitten wäre. Obwohl der Berliner Senat die Bundesregierung bereits gebeten hat, den Alliierten die Auflösung der Senatsreserven vorzuschlagen, sind die rund 200 geheimen Lagerorte für die eisernen Reserven immer noch „streng vertraulich“.
Seit dem 9. November vergangenen Jahres wird die Notwendigkeit der Krisenvorräte in der Öffentlichkeit diskutiert. „Wir rechnen damit, daß wir ab 1991 mit der Auflösung beginnen können“, meint Gerhard Erbe, Abteilungsleiter in der Berliner Wirtschaftsverwaltung. Die Berlin-Bevorratung entstand aus den Erfahrungen der Berlin -Blockade von 1948/49. In der Zeit des „Kalten Krieges“ hatte die Sowjetunion mit einer Total-Blockade versucht, die Alliierten zur Aufgabe Berlins zu zwingen.
Fast ein Jahr lang hatten damals die Vereinigten Staaten und Großbritannien die Versorgung der Berliner Bevölkerung durch eine Luftbrücke sichergestellt. Seit 1952 lagern als Reaktion darauf riesige Mengen von Rohstoffen, Nahrungsmitteln, Medikamenten und Hygieneartikeln in Lagerhallen, Freiflächen und Tanks. Neben Getreide, Gemüsekonserven, Zucker, Heizöl und Seife sind auch Klopapier und Präservative vorrätig. Selbst an Bremsbeläge für U-Bahnen, Senfkörner und Zeitungsdruckpapier in verschiedenen Rollenbreiten ist gedacht.
Die Notreserven sind nach Schätzungen rund zwei Milliarden Mark wert. Das Bundesfinanzministerium zahlt jährlich 100 Millionen Mark für Unterhalt und Erneuerung der Bestände. „Insgesamt 250 Mitarbeiter sind damit beschäftigt, die Vorräte permanent umzuwälzen“, sagt Erbe. Sie erneuern die Bestände und passen sie den veränderten Lebensgewohnheiten an. So wurden zum Beispiel 1980 in Berlin von einem beauftragten Unternehmen Schuhe aus den 60er Jahren zu drei Mark das Paar verkauft. Mehrere tausend fabrikneue Fahrräder des Baujahres 1961 gingen im vergangenen Jahr an Behörden und Unternehmen.
Wenn die über die ganze Stadt verteilten Vorratskammern völlig geräumt werden sollten, werden 624.000 Quadratmeter Freiflächen und 423.000 Quadratmeter überdachte Lagerräume frei. Sie stünden vor allem für Industrieansiedlungen und Grünanlagen offen. „Begehrlichkeiten von Stadtbezirken und Unternehmen gibt es in dieser Hinsicht bereits“, verrät Jürgen Dittberner, Wirtschaftsstaatssekretär.
Elke Vogel
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