: AUSLAUFMODELL KREUZBERG
■ Der Mythos wird von der Wirklichkeit eingeholt / Der ideologische Schaukampf am 1.Mai wird zum Verteilungskampf / In den 80er Jahren haben Polizei und Staat nur geübt...
„Tiefes Durchatmen kennzeichnet den Tag danach.“ So beginnt Gerd Rosenkranz seinen Kommentar zu den Ereignissen zu diesem 1.Mai 1990. Dem tiefen Durchatmen folgten 30 Tage hohle Luft. Eine Analyse der Ereignisse schien allen Beteiligten obsolet, vor allem jenen, die bereits im Vorfeld, nicht zuletzt via taz den Kreuzberger 1.Mai entpolitisierten, marginalisierten und zu Grabe trugen. Was aber war geschehen?
Schon im Vorfeld des 1.Mai war die sogenannte Szene in hohem Maße irritiert und verunsichert. Zum einen durch den 1989 erfolgten Bruch zwischen der etablierten Linken, die an die Fleischtöpfe der Macht gelangt war, und den Protagonisten der ritualisierten Mairandale. Zum anderen durch die Ereignisse rund um den 9.November, die Öffnung der Grenzen, die im bislang ummauerten Kreuzberg deutlicher noch als anderswo die kommenden Konfliktlinien erkennen ließ.
Der „Szene“ fehlte beides: Solidarität und meßbare Erfolge. So gerieten sowohl die Demo als auch das Fest auf dem Görlitzer Bahnhof vor allem zu einer Zurschaustellung des eigenen Wir-Gefühls, zur Sublimierung des Mangels an konkreten Utopien („Lieber raus auf die Straße als heim ins Reich!“).
Im Görlitzer Park herrschte alles andere als Lust auf Randale. Vielmehr feierten die sonst isolierten Grüppchen ihre eigene Zusammengehörigkeit. Das Wort von einem „Kreuzberger Woodstock“ machte die Runde, das Ausbleiben von Gewalt wurde von der Mehrzahl der Anwesenden als befreiend empfunden. Als das Fest zu Ende ging, schickte sich die überwiegende Mehrzahl der Besucher an, mit diesem Gefühl zufrieden nach Hause zu gehen. Zu diesem Zeitpunkt gehörte die Straße bereits ganz anderen, buddelten Türkenkids nach Pflastersteinen, zog sich der Nachwuchs die Haßmaske über das Gesicht.
1. Der Generationskonflikt
Seit mehr als zehn Jahren zieht der Mythos Kreuzberg Jahr um Jahr westdeutsche Jugendliche auf der Suche nach Freiräumen an, in denen sie ihre Utopien von selbstbestimmten, repressionsfreien Lebensformen zu verwirklichen suchen. Doch längst ist der Bezirk fest in der Hand derer, die seit mindestens zehn Jahren ihre Vorstellungen etabliert und in Institutionen gegossen haben. Sei es der Verein SO 36, Alternative Liste oder auch die taz, ihre MacherInnen, die Propheten des Modells Kreuzberg verordnen den nachfolgenden Generationen sozialstaatliche Programme für etwas, was sie sich selbst als Freiraum erkämpft haben. An ihre eigene Vergangenheit werden sie ungern erinnert, die Häuserbesetzung von 1981 wird im Nachhinein legitimiert, weil sozialstaatliche Institutionen aus ihr hervorgegangen sind, derer sich der Besetzer von 1990 bitteschön zu bedienen hat. „Warum denn ausgerechnet Kreuzberg?“ ist die häufig gestellte Frage der etablierten BesetzerInnen von einst, denen ihre NachfolgerInnen im wahrsten Sinne aufs Dach steigen (siehe die jüngste Besetzung des Dachgeschosses am Wassertorplatz). Der Mythos entlarvt sich selbst. Die Kreuzberger Wohlfahrtsbürokratie, entwickelt von den Vorkämpfern sozialer Utopien, verhindert Freiräume für die Nachfolgenden, die von ihnen selbst angezogen wurden. Dabei haben alle diese Institutionen ihren Projektcharakter längst verloren, sind von ihren MacherInnen in dem Maße in die bestehende Ordnung integriert worden, in dem sie sich selbst den herrschenden Strukturen angepaßt haben und von ihnen profitieren.
Habermas schreibt unter der Überschrift: „Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien“: Dem sozialstaatlichen Projekt wohnt der Widerspruch zwischen Ziel und Methode inne. Sein Ziel ist die Stiftung von egalitär strukturierten Lebensformen, die zugleich Spielräume für individuelle Selbstverwirklichung und Spontaneität freisetzen sollten. Aber offensichtlich kann dieses Ziel nicht auf direktem Wege einer rechtlich -administrativen Umsetzung politischer Programme erreicht werden. Mit der Hervorbringung von Lebensformen ist das Medium Macht überfordert.
Das Modell Kreuzberg erstickt an sich selbst, es ist nicht in der Lage, seine (unbestrittenen) Erfolge der nachfolgenden Generation zu vermitteln.
2. Die Außenseiter
Eines ist beiden Gruppen im oben beschriebenen Generationskonflikt gemein. Sie sind Sprößlinge des deutschen Bürgertums, von einigen Kreuzberger Offiziellen gern als „württembergische Landjugend“ diffamiert. Ihr Kampf ist der Kampf um Freiräume abseits der bürgerlichen Norm, ideologisch unterlegt mit anarchistischer und internationalistischer Kritik am System. Seit Mitte der Achtziger und besonders seit Öffnung der Grenzen kommt jedoch eine neue Qualität in der Auseinandersetzung hinzu. Einer immer größer werdenden Gruppe wird signalisiert, daß sie in den neuen Verhältnissen eines kommenden Großdeutschland außen vor stehen. Dies gilt insbesondere für die ausländischen Jugendlichen. In der Zukunft wird dies auch für viele, gerade DDR-Jugendliche gelten, für die der Weg an die Fleischtöpfe versperrt bleibt. Ihre Motivation zur Gewalt ist weniger politisch-ideologisch verbrämt, sie ist Folge der täglichen Erfahrung, außen vor zu sein. Sie sind politisch nicht definierbar, nicht als Linke, schon gar nicht als Autonome. Wenn sie an diesem 1.Mai zu Steinen gegriffen haben, dann deshalb, weil sie die Symbolik aufgreifen, die in diesem Datum seit 1987 steckt. Die Plünderung eines Bolle-Marktes war ritualisierter Verteilungskampf (wie das?, säzzer), eine Erfahrung, die besonders türkischen Jugendlichen allgegenwärtig ist. Sie sind eine von der Öffentlichkeit marginalisierte Minderheit, ihren Problemen ist weder mit sozialstaatlichen Mitteln noch mit der Schaffung von Freiräumen zu begegnen. Hier holt Berlin (und Deutschland) eine Entwicklung nach, wie sie in anderen Staaten, in Großbritannien zum Beispiel, längst eingesetzt hat. Das erkannte auch Rosenkranz in seinem taz -Kommentar, als er am 2.Mai prophezeite, das Gewaltpotential bleibe bestehen, solange diese Gesellschaft keine Bereitschaft zeige, sich multikulturell weiterzuentwickeln. Konsequent weitergedacht läßt sich sagen: Im Ritual der Maifeiern haben Polizei und Staat für die Verteilungskämpfe der neunziger Jahre nur geübt.
Dirk Ludigs
Der Autor ist freier Journalist und Mitarbeiter bei Radio 100
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen