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Nicht auf die falsche Schiene setzen

Für eine umweltverträgliche Verkehrspolitik mit Zugpferd Bahn böten sich in der DDR jetzt gute Chancen / Das Grundkonzept liegt vor / Doch es riecht eher nach einer Gesellschaft rasender Automobilisten  ■  Von Markus Hesse

Fast archaisch mutet das Verkehrswesen in der DDR an - im Gegensatz zur Bundesrepublik. Nur halb so viele Bürgerinnen und Bürger sind im Osten motorisiert wie im Westen. Die bisherigen Hemmnisse für eine Ausweitung des Pkw-Verkehrs werden erst allmählich beseitigt, wenn auch mit fortschreitender Zeit umso intensiver. Noch hat die Reichsbahn bei der Güterbeförderung Verkehrsanteile, die wiederum schon fast den Zielvorstellungen einer ökolgischen Verkehrspolitik nahekommen, ohne daß dies auch tatsächlich auf eine solche Politik zurückzuführen wäre. Dem schlechten Ausbauzustand von Schiene und Straße entspricht das im Vergleich niedrigere Lebenstempo der DDR-Gesellschaft: Herstellung, Lieferung und Verbrauch von Gütern erfolgen in einem grundlegend anderen Rhythmus als in der zu Tode gehetzten westlichen Last-Minute-Society. Wie wir alle sehen, soll dieser Zustand nun offenbar möglichst rasch Ende finden.

Vor diesem Hintergrund und der absehbaren Öffnung der osteuropäischen Märkte, werden sich die Verkehrsprobleme erheblich zuspitzen. Betrachtet man die Verkehrsysteme der westlichen Industrienationen, dann wird dies ganz deutlich: Die sechs größten unter ihnen - die USA, Japan, Bundesrepublik, Großbritannien, Frankreich und Italien lassen mehr als 400 Millionen Pkws und Lkws über ihre Straßen rollen, das sind drei Viertel aller weltweit registrierten Kraftfahrzeuge. Käme es in Osteuropa aber auch in den sogenannten Entwicklungsländern zu einer derartig hohenMotorisierung, würden sich die Probleme mit dem massenhaften Straßenverkehr weltweit potenzieren.

Auch im Osten

Wachstum ohne Grenzen?

Um die Rahmenbedingungen künftiger Verkehrspolitik aus ökologischer Sicht zu beurteilen, sind zweierlei Faktoren ausschlaggebend: Auf globaler Ebene die Aufheizung der Erdatmosphäre und die langfristigen Klimaveränderungen, an der die Verkehrsemissionen der genannten Industrieländer mit einem Viertel beteiligt sind. In europäischer Hinsicht ist es der angestrebte EG-Binnenmarkt, der als Akkumulationsraum von Kapital noch weit über die geplante Abgrenzung hinausgehen wird.

Das Problem der Klimaveränderung markiert bereits einen Wendepunkt in der Umweltpolitik. Antagonistisch zu den klassischen Umweltkonzepten verlangt sie nach einer alle Bereiche umfassenden ökologischen Politik. Das Klimaproblem wird - wenn es denn überhaupt nennenswerte Spielräume gibt - nur durch drastisch verringerte Stoff- und Energieumsätze vor allem der reichen Industriestaaten möglich sein. Für den Verkehrssektor läßt sich dies auf die konkrete Formel bringen: Weniger ist mehr. Also, Transport muß eingespart werden. Allein eine Verlagerung der heutigen Transportvolumina auf andere Ebenen - etwa in Form der Pkw -Verdrängung aus der autofreien Innenstadt - wie sie auch vermeintlich fortschrittlichen Verkehrkonzepten vorschwebt, wird nicht dem notwendigen Ziel der Verdichtung von Materie gerecht.

Sobald der Binnenmarkt verwirklicht ist, wird gemeinhin mit großen Wachstumsimpulsen für die nationalen Industrien und mit einer Steigerung der Einkommmen gerechnet. Der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Personen sowie der freie Marktzugang für Verkehrsunternehmen werden in Kombination mit den Wachstumseffekten für eine drastische Zunahme vor allem der Verkehrsströme und Transportweiten von Pkws und Lkws sorgen. Was heute schon für die Bundesrepublik gilt, wird sich dann im Zeitraffer auch auf dem Gebiet der heutigen DDR vollziehen.

Mit Sicherheit hat die Einführung der Marktwirtschaft einen strukturellen, organisatorischen und politischen Umbau des Verkehrswesen zur Folge. Ob die Anpassung der gewachsenen Zeitstrukturen der DDR-Gesellschaft an diesen neuen Reproduktionsrhythmus überhaupt erfolgen kann, bleibt offen. Unbestritten, daß es sinnvoll und notwendig ist, bürokratische Hemmnisse abzubauen, um ein sich selbst regulierendes, aber mit Obergrenzen ausgestattetes Verkehrssystem zu ermöglichen. Jedoch hat die Modernisierung der Industrie sowie die Einführung neuer Logistikkonzepte eine neue Verkehrsstruktur und -kultur zur Folge, deren ökologische und soziale Folgen allerdings hüben und drüben zur Zeit völlig ausgeblendet werden.

Auswege und Handlungmöglichkeiten

Die immanente Beschleunigung der Raum-Zeit-Organisation, des Verkehrs also, in den führenden Industrieländern steuert zweifellos auf eine gesellschaftliche Katastrophe zu. Die bisherigen Lösungsansätze konnten die Dynamik der Entwicklung nicht bremsen. Wenn das gegenwärtige Beschleunigungs- und Hochgeschwindigkeitsprinzip nicht durchbrochen wird, können verkehrspolitische Konzepte bestenfalls noch als Nachsorgetechnik funktionieren. Insoweit gleicht die Situation durchaus den Problemen in der Umweltpolitik. Eine vorsorgende Lösungstrategie indes muß die von Enträumlichung und Beschleunigung geprägte Fehlentwicklung der letzten Jahrzehnte grundsätzlich umkehren.

Als Verkehrswende kann dieser Prozeß analog zur klassischen Debatte über die Energiewende der 70er und 80er bezeichnet werden. Die Verkehrswende zielt auf eine Auflösung der gegenwärtigen industriegesteuerten Raum-Zeit -Organisation hin. Voraussetzungen dieser Verkehrswende sind erstens: eine neue Wertschätzung des Raumes, zweitens: eine andere Zeitwirtschaft, drittens: eine andere Verkehrspolitik. Mit einer neuen Wertschätzung des Raumes verbindet sich die Idee, wichtige Bereiche des wirtschaftlichen Handelns wieder den direkten Bezug zur Stadt und zur Region zu geben und somit an der Quelle des Verkehrs die Transportraten zu reduzieren. Keineswegs neue Ideen, denn sie werden bereits seit den 70ern im Zusammenhang mit einer „eigenständigen Regionalentwicklung“ diskutiert. Überflüssige Transporte ließen sich insbesondere bei der Erzeugung und Verarbeitung von Nahrungsmitteln und Verbrauchsgütern einsparen.

Eine andere Zeitwirtschaft zielt auf eine „Entschleunigung“ unserer Lebenswelt und einen maßvollen Umgang mit den zeitlichen Ressourcen der Menschen, die mit dem zunehmenden Gebrauch immer schnellerer Verkehrsmittel paradoxerweise immer knapper werden. Gerade die öffentlichen Verkehrsmittel haben sich mit Beschleunigungsprogrammen und Hochgeschwindigkeitstrassen auf einen hoffnungslosen Wettbewerb mit dem Auto begeben, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem allseits bekannten Hase-und-Igel-Spiel hat: Ick bün all dor! Das Auto als Mobilitätsgarant führt in der Regel doch schneller ans Ziel als Bus und Bahn. Diese erreichen mitunter zwar ein hohes Tempo, doch der Blick auf die kompletten Verkehrsbedürfnisse geht dabei verloren. Das Denken in Wegeketten von Haus-zu-Haus, verbunden mit maßvollen Geschwindigkeitsstandards würde dem öffentlichen Verkehr nicht nur weniger Hetze erlauben, sondern auch ein adäquates Angebotsprofil ermöglichen und gleichzeitig ökologisch und sozial verträglicher sein. Mehr Systemdenken, mehr Vernetzung wäre ein Beispiel für intelligente Innovation.

Die Verkehrswende hat verschiedene Wirkungsdimensionen. Ökologisch gesehen zielt sie auf drastische Reduzierung des Stoffumsatzes durch Verbrennungsmotoren und auf eine Verringerung des Flächenverbrauchs durch den Straßenbau. In sozialer Hinsicht ist eine möglichst gleichwertige und gleichberechtigte Verteilung von Mobilität für alle angestrebt. Schwere Eingriffe in die Lebenswelt der Menschen, aufgrund der Massenmotorisierung und ihrem fordistischen Produktionsmodell, sollen auf ein Minimum beschränkt werden. Aber auch die sozialen Folgen eines verkehrspolitischen Umbaus, etwa unter den Beschäftigten der Automobilindustrie, müssen reguliert werden. In ökonomischer Hinsicht werden sparsame und schonende Verwendung von Ressourcen und die Minimierung von Kosten bei voller Internalisierung aller Aufwendungen angestrebt.

Entscheidungen fallen

in traditionellen Milieus

Auch die Frage der Demokratieverträglichkeit bestimmter verkehrspolitischer Entscheidungen wurde bisher sträflich vernachlässigt. Ursprung, Zweckbestimmung und Folge einer Entscheidung entfernen sich zunehmend räumlich und zeitlich voneinander. Politische Ordungssysteme können der Geschwindigkeit dieser Veränderung in keiner Weise mehr gerecht werden - wie etwa das Tempo der deutschen Vereinigung zeigt. Gleichzeitig fallen die Entscheidungen immer noch bevorzugt in traditionellen Milieus. Die Entscheidungsträger - eine fast geschlossene, autofahrende Männergesellschaft zwischen 20 und 60 - nimmt die Verkehrsprobleme anders wahr als die Allgemeinbevölkerung, das belegen empirische Studien. Eine zivile, demokratische Gesellschaft hingegensollte sich gerade dadurch auszeichnen, daß sie sich über den Takt verständigt, in dem sie leben will.

Praktische Spielräume für eine gesamtdeutsche Verkehrsregulierung sind durchaus vorhanden. Konkret ließe sich an die Verkehrsinfrastruktur von Betrieben und Staat anknüpfen: Die vorteilhafte Schienennetzdichte der DDR ist hier als einmalige Chance zu begreifen, die Fehler der bundesdeutschen Entwicklung nicht zu wiederholen. Statt Ausbau des Straßennetzes: die sozialökologisch verträgliche Schiene (nach den nötigen Erhaltungsinvestitionen) an den Strukturwandel anpassen. Leider wurden die beiden deutschen Eisenbahnen, die in diese Richtung dachten und endlich einmal eine gute Idee zur richtigen Zeit präsent hatten, durch einen ungehaltenen Bundesverkehrsminister zurückgepfiffen. Derselbe übrigens, der Tempolimit und Null -Promille-Grenze bereits als „sozialistische Errungenschaften“ diffamiert hat. In seiner Partei, dies ist hinlänglich bekannt, fährt man gern schnell und betrunken...

Die künftige politische Gliederung des heutigen DDR -Territoriums ist verkehrspolitsch von entscheidender Bedeutung, denn nicht zuletzt hier werden die die konkreten Spielräume für eine dezentrale Infrastrukturpolitik gesetzt. Je deutlicher die politischen Signale für eine regionale Strukturpolitik sind, die an den Bedürfnissen der vor Ort lebenden Menschen orientiert ist, um so günstiger stehen auch die Zeichen für eine Problemlösung an der Quelle. Fazit: In der Neugliederung der DDR müssen auch die Grundlagen für eine umfassende Dezentralisierung Gesamtdeutschlands geschaffen werden.

Wichtiges Element der Verkehrsregulierung ist die zeitliche und räumliche Einteilung des Verkehrs durch ordnungspolitische Maßnahmen. Striktes Nachtfahrverbot für Lkws, Tempolimit sowie die Begrenzung der Fahrzeugabmessungen würden zum Beispiel die Einführung der „Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft“ in der DDR erheblich behindern. Wachsende Proteste der bundesdeutschen Bevölkerung gegen die anschwellenden Verkehrsströme haben gezeigt - ebenso wie die vielen Staus -, daß die Beschleunigung und Aufzehrung unserer Lebenswelt nicht grenzenlos ausdehnbar ist.

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