: Eine ungeklärte Zukunft für die Deutsche Reichsbahn
■ Die Folgen der Wirtschaftsunion für den Güter- und Personenverkehr / Der gläubige Blick nach Westen kann eigene Ideen nicht ersetzen / Beschleunigter Trend zum Individualverkehr
Bis zum November 1989 hatte die Deutsche Reichsbahn nur eine einzige Aufgabe: Güter von einem Punkt A zu einem Punkt B zu transportieren. Alle anderen Überlegungen waren dem nachgeordnet. So war es kein Wunder, daß das Verkehrswesen sich zu einer „Wachstumsbremse der gesamten Volkswirtschaft“ entwickelte, wie Frau Rosemarie Schneider von der Forschungsstelle für gesamtdeutsche Fragen feststellt.
Welche Folgen haben demgegenüber die Einführung der D-Mark, die Niederlassungs- und Gewerbefreiheit sowie die Ablösung der alten Kommandostrukturen in der Wirtschaft für das Traditionsunternehmen Reichsbahn?
War den Unternehmen die Deutsche Reichsbahn als Transportmittel bisher anbefohlen worden, so können sie nun frei wählen. Wurden bisher auch ungeeignete Güter transportiert, so werden diese von einem sich rasch entwickelnden Speditionsgewerbe übernommen werden. Die Braunkohleförderung soll gesenkt werden - auch hier verliert die Bahn an Nachfrage.
Ausgerechnet im Industriegebiet der DDR, dem Dreieck Halle/Leipzig, Dresden und Chemnitz, hat die Deutsche Reichsbahn auch jetzt schon ohnehin ihre größten Probleme mit Engpässen; die Sanierung der Gleisbetten und Brücken wird weitere schaffen. Die Konzentration bei Neu- und Ausbau wird sich auf die Magistralen (Hauptverkehrsstrecken) beschränken - das wiederum läuft auf eine kalte Stillegung der Strecken in den ländlichen Gebieten hinaus.
Der bisher schon in der DDR zunehmende Trend zum Individualverkehr wird sich beschleunigt fortsetzen, die DR kann hier kurzfristig keine qualitativ hochwertige Alternative bieten. Arbeitsplätze sind also in großem Umfang gefährdet (Wie stark die neue Eisenbahnergewerkschaft mit ihrem fähigen Vorsitzenden Peter Rothe ist, muß sich noch zeigen.)
Quintessenz: Die Bahn wird zwangsläufig Kunden verlieren, und es stellt sich nun die Frage, ob es ihr möglich sein wird, sie später zurückzugewinnen. Das wird entscheidend davon abhängen, wie jetzt die rechtlichen Rahmenbedingungen gesetzt werden, wie die Mittel des Verkehrsministeriums verteilt werden, und welche Fiskalpolitik gemacht wird.
Soll man sich nun an der Bundesrepublik orientieren?
Die Bundesbahn in der Bundesrepublik hängt fest im Würgegriff der Bundesregierung und der Konkurrenz. Die Verkehrspolitik wird von der Auto-Industrie mitformuliert erst kürzlich wurde wieder in der Sendung Doppelpunkt die Statthalterfunktion des Verkehrsministeriums besonders deutlich. Die Bundesbahn (DB) kann und darf ihre eigenen Interessen nicht energisch genug vertreten und durchsetzen, weil sie als Bundesunternehmen zur Loyalität verpflichtet ist. Der gesetzliche Rahmen zwingt sie zu einer Politik, in deren Rahmen sie sich selbst halbseitig verstümmelt.
Sie konzentriert sich auf Magistralen - eine verfehlte Infrastrukturpolitik hat dort für Engpässe gesorgt - und zieht sich mit Freude aus den ländlichen Gebieten zurück. So fördert sie die weitere Zusammenballung von Mensch und Industrie in der Monokultur Stadt.
Daher bietet der einfache Blick in Richtung Westen keine Lösung. Phantasie und Durchsetzungsvermögen für neue Ideen und Strukturen sind gefordert. Sonst wird der DDR-Bürger sein neues West-Auto nicht nur fahren dürfen, sondern müssen.
Steffen Niemeyer
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