: „Oh wie schön ist Panama...“
■ „Wir schreiben, was von uns verlangt wird. Nur manchmal können wir uns durch Witz einen Augenblick der Erleichterung verschaffen“. Gedanken zur Situation chinesischer Intellektueller nach dem 4. Juni 1989. HU SHUO (ein Pseudonym), vormals Medienschaffender in Peking, hat seit 300 Tagen keinen eigenen Satz mehr geschrieben.
Gemeinsam mit 30 Kollegen hatte ich den „offenen Brief vom 17.Mai“ unterschrieben, in dem Yan Jiaqi Deng Xiaoping als „Diktator“ bezeichnete: Zwei Tage lang hing meine Unterschrift deutlich sichtbar an der Eingangshalle. Dann, am 20.Mai, nach der Ausrufung des Kriegsrechts, war die Unterschriftenliste plötzlich verschwunden. Meine Freunde und ich wissen bis heute nicht, wer sie abgerissen hat, vermutlich jemand, der uns schützen wollte.
Die großangelegte Denunziationskampagne „Laßt uns die Konterrevolutionäre aufspüren“, die nach dem Massaker initiiert worden war, brachte nicht den gewünschten Erfolg. Sicher, es gab Denunziationen, meist aus persönlicher Rache. Doch die Solidarität in den Betrieben und Behörden blieb erstaunlich stark. Ich selbst habe es sicherlich auch meinem Chef zu verdanken, daß ich den 300 Tagen seit Juni 1989 unbehelligt blieb. Als einmal zwei Beamte der Sicherheitspolizei sich bei ihm Erkundungen über mich einholten, spielte er mein politisches Engagement völlig herunter: „Ein junger Mann, zu leidenschaftlich, zu spontan, sonst sehr vernünftig, absolut zuverlässig.“
Die Situation ist grundsätzlich anders als bei der Anti -Rechts-Bewegung von 1957 oder bei der Kulturrevolution. Damals gab es innerhalb der Bevölkerung viel stärkere „Kämpfe„; man glaubte noch an die „Fratze des Klassenfeinds“ und wollte ihn entlarven. Das chinesische Volk glaubte noch an Mao. Heute glaubt niemand an Deng Xiaoping. Wir geben die von uns geforderten Erklärungen ab, lachen innerlich, ja, übertreiben öffentlich unsere Reue - und wissen, daß unsere Kollegen dies wissen. Es ist einmerkwürdiges Spiel: Alle lügen, und alle wissen es.
Natürlich hatten und haben wir alle Angst. Schon während der Demokratiebewegung. Dies gilt vor allem für einige ältere Kollegen, die noch stark von den Erfahrungen der Kulturrevolution geprägt sind. Ein älterer Mitarbeiter hatte auch den „Offenen Brief“ gegen Deng Xiaoping unterzeichnet; einen Tag später übte er öffentlich in einer Wandzeitung Selbstkritik: Er nehme alles zurück, die Parteiführung dürfe man nicht diskreditieren; er klage sich selbst beim Parteibüro unserer Behörde an. Dieser Mann ist nicht unbedingt ein Feigling; aber er mag als Beispiel stehen für unsere Intellektuellen „ohne Rückgrat“. Es gibt bei uns keine Tradition der freien Meinungsäußerung. Öffentliche Diskussionen darüber oder über Fragen der Menschenrechte oder einer Demokratisierung sind unmöglich geworden.
Die Tätigkeit im Medienbereich ist zu einer völligen Farce entartet. Ich muß ehrlich gestehen, daß ich in den vergangenen 300 Tagen keinen Text selbst verfaßt, kein Programm selbst entworfen habe - ich habe nur redigiert. Wir schreiben, was von oben verlangt wird. Innerlich schämen wir uns, lachen über das, was wir selbst berichten.
Mitte Juni, als die Parteiführung die Presse scharf kritisierte und neue Bestimmungen herausgab, warnte uns unser Chef bei einer Betriebsversammlung: Wir müßten vorsichtig und ernsthaft sein; er drohte mit der „Ausschaltung“ unverantwortlicher Redakteure. Ich gehe davon aus, daß unser Chef es gut mit uns meinte, denn gleichzeitig beteuerte er, er habe seit einigen Tagen auch nicht mehr schlafen können. Schlaflosigkeit war wochen-, ja monatelang ein Hauptproblem in intellektuellen Kreisen in Peking. Beruhigungstabletten waren nur noch schwer zu bekommen.
Die meisten Abteilungsleiter in Verlagen und beim Rundfunk sind entlassen; ebenso der Chef des Schriftstellerverbandes. In Radio und TV blüht eine Renaissance der revolutionären Lieder der fünfziger Jahre; allen voran dröhnt täglich mehrfach das alt-neue Glaubensbekenntnis (in Liedform): Meiyou zhongguo, meiyou gongchangdang - Ohne die Kommunistische Partei gäbe es kein neues China. Die Kleinen im Kindergarten können es auswendig.
Dafür entstand ein „kleiner Bruder“ von Lei Feng, der ja als Muster und Superheld im Sinne der kommunistischen Vorzeigeethik auch im Ausland berühmt bzw. berüchtigt geworden ist. Keine Angst, wir lachen auch über diese „Unsterblichen“. Jedenfalls heißt die neue, für die Grundschul- und Gesamtschulkinder konzipierte Supergestalt Lai Ning, 14 Jahre alt, aus der Provinz Sichuan stammend. Schon von früh auf selbstlos, nur an seine Kameraden, an die Schule und natürlich an die KPCh denkend, stirbt er beim Versuch, einen Vulkanausbruch einzudämmen und das Feuer zu löschen. Zwei seiner Kameraden waren weggerannt; er selbst stellt sich heldenmütig den Flammen entgegen, stirbt den Heldentod. Es gibt einen dicken Romanwälzer über diesen Knaben, in vielen Grundschulen eine Pflichtlektüre. Neulich kam der Sohn eines Kollegen von der Schule nach Hause und meinte, wie dumm doch Lai Ning gewesen sei; er habe doch unmöglich das Feuer alleine löschen können; warum sei er nicht ins Dorf gelaufen und habe Hilfe geholt? Es entbehrt nicht der Ironie, daß eben genau dieser Kollege bei uns dazu verdonnert wurde, Sendungen über den Vorbildcharakter Lai Nings zu machen.
Die Ereignisse in Rumänien haben wir mit sehr starker innerer Anteilnahme, ja, mit Begeisterung verfolgt. Wenn wir uns trafen, begrüßten wir uns nicht wie üblich „Hast du schon gegessen?“, sondern mit „Hast du Neuigkeiten aus Rumänien?“ Die Hinrichtung Ceausescus wurde nur in den Mittagsnachrichten mit einem einzigen Satz erwähnt. Bei den Hauptnachrichten am Abend war Ceausescu schon aus der offziellen Geschichtsschreibung getilgt. Bilder vom Fall der Berliner Mauer, von den Demonstrationen in Prag haben wir nicht gesehen. Manchmal trösten wir uns ein wenig damit, daß wir eine Art Vorreiterfunktion für Osteuropa gespielt haben.
Privat diskutieren wir, warum die „patriotische Demokratiebewegung“ gescheitert ist: Weil das Ziel oder die Ziele unklar blieben, weil viele nur ihrem allgemeinen Mißmut Luft verschafften (was bei uns sonst nicht möglich ist), weil es keine starke, einheitliche Führung gab - sie konnte von den Studetnen und Intellektuellen nicht gebildet werden. Die Bewegung war über deren Köpfe schon längst hinweggefegt. Die Leute auf der Straße und auch viele Intellektuelle sind auf einige Leitfiguren der Bewegung sehr schlecht zu sprechen. Vor allem Yan Jiaqi und Fang Lizhi werden geradezu verachtet, weil sie ins Ausland bzw. in eine ausländische Botschaft geflüchtet sind. Man wirft ihnen vor, China und die Demokratiebewegung verraten zuhaben. Fang Lizhi habe immer vom fehlenden Mut der Intellektuellen gesprochen; jetzt habe er sich selbst als Hasenfuß entlarvt. Das Massaker - so reden einige mit merkwürdig christlicher Diktion - sei wie ein Kreuz gewesen, an dem müßte Fang Lizhi eigentlich hängen. Selbstironisch, aber vielleicht auch mit einem ernsten Unterton meinte ein Kollege von mir bei einer „Umschulungsstunde“: „Was war ich für ein Idiot, daß ich Yan Jiaqi und Fang Lizhi nachgelaufen bin! Ich habe doch keine Auslandsverbindungen!“
Wer irgendwie kann, haut ab - egal wohin. Vor den Botschaften Australiens oder der USA kommt es ob des Andrangs immer wieder zu Rempeleien, ja zu Gewalttätigkeiten. Standen in der Visaabteilung der deutschen Botschaft früher vielleicht vier oder fünf Chinesen herum, sind es heute 50 oder 60. Der Schwarzmarkt für falsche Pässe, falsche Visa - vor allem für lateinamerikanische Länder - blüht; für etwa 50.000 Yuan (etwa 17.000 DM) bekommt man gefälschte Papiere, zum Beispiel für Panama. So ist - wie im deutschen Kinderbuch Panama für uns eine Hoffnung, ein Traum.
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