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„Wir haben viel mehr bewegt, als die meisten glauben“

Es regnet in Strömen, an diesem 4.Juni 1990 im niedersächsischen Lüchow-Dannenberg. Das Projekt „wunde-r -punkte wendland“, mit seinem gedrängten Programm aus Kultur, Ökologie und Politik, geht nach zehn Tagen zu Ende. In den Rundlingsdörfern zwischen Lüchow und Clenze zeigen KünstlerInnen und KunsthandwerkerInnen ein letztes Mal ihre Werke: Weiße Textilien unter freiem Himmel in der Gemarkung Waddeweitz, die sich weithin sichtbar wie gewaltige Segel vor grünen Feldern bauschen, großformatige Ölgemälde in der alten Ziegelei in Kröte, Keramik „für Auge und Ohr“. In Güstritz liest die Autorin Jutta Heinrich aus ihren Büchern, im Gartower Schützenhaus tröpfeln die letzten Besucher durch die Fotoausstellung „Republik Freies Wendland“ von Günter Zint. Kaum einer von ihnen ist sich der historischen Bedeutung dieses Tages bewußt: Heute vor zehn Jahren wurde das von AKW-GegnerInnen gebaute Hüttendorf auf der Bohrstelle 1.004 von sechstausend Polizisten plattgewalzt.

Den zehnjährigen Jahrestag ihrer legendären Platzbesetzung ließen die „freien Wenden“ ohne rauschende Feier oder trauernde Andacht verstreichen. Ein „Wiedersehensfest“ erhielt nur kläglichen Besuch, eine Podiumsdiskussion zum selben Thema wurde schließlich abgesagt. Es scheint fast, als hätten die WendländerInnen Wichtigeres zu tun in diesen Tagen, in denen allwöchentliche Blockaden am Zwischenlager vor den ersten Castor-Transporten warnen, zwischendurch mal das Baugelände zur geplanten Pilotkonditionierungsanlage (PKA) besetzt wird und Hunderte von AtomgegnerInnen beim nächtlichen Dämonen-Samba um das Endlager tanzen, während in Hannover Rot-Grün über den Ausstieg aus Gorleben verhandelt.

Und doch geraten die PlatzbesetzerInnen von damals in emotionale Wallungen, wenn sie sich an jene 33 wolkenlose Tage im Mai 1980 erinnern. „Neben dem Treck nach Hannover war die Besetzung von 1.004 der Höhepunkt unseres Widerstands“, sagt Marianne Fritzen, die ehemalige Vorsitzende der Bürgerinitiative. Und sie gesteht: „Ich bin nach zehn Jahren noch nicht einmal in der Lage gewesen, die Tonbandkassette von der Räumung abzuhören. Ich kriege jedesmal solche Gänsehaut, daß ich sie nach fünf Minuten wieder abstellen muß.“ Wenn's sein muß, setzt sich die 67jährige Kreistagsabgeordnete der Grünen noch heute auf die Straße. Zwar sieht sie in Sachen Atom trotz der vielversprechenden Koalitionsvereinbarung „noch immer kein Licht am Ende des Tunnels“, aber sie sagt auch: „Wir haben viel mehr bewegt, als die meisten glauben.“ Und: „Es wäre die Zeit reif, mal wieder so etwas zu machen.“ Ganz anders Undine von Blottnitz, die die Freie Republik als Mitglied der „Bäuerlichen Notgemeinschaft“ gegen die Atomanlagen erlebte. „1.004 - das war ein lieber, naiver Traum“, urteilt die leidenschaftliche Atomgegnerin heute. Als Abgeordnete der Grünen sorgte sie fünf Jahre im Straßburger Europaparlament für Furore und wirkt bei Straßenblockaden neben den Landfreaks ebenso wie neben den Polit-Profis im Parlament noch immer wie ein schillernder Paradiesvogel. Für sie hat sich in den letzten zehn Jahren nicht viel zum Positiven verändert. Der Titel des Filmes über die Platzbesetzung, Der Traum von einer Sache, trifft es nach ihrer Meinung ganz genau.

Kollege Adi Lambke, Landwirt aus Jameln, der in Fraktionsgemeinschaft mit Marianne Fritzen die Gorlebener Sache im Kreistag vertritt, hat spontan ganz andere Assoziationen an die Freie Republik: „Da habe ich den französischen Landwein kennengelernt, der gehört heute zu meinen Lieblingsgetränken.“ Er kann sich noch gut daran erinnern, wie er fast jeden Abend nach der Arbeit noch „ins Dorf“ gefahren ist. Heute beschäftigt sich der bald sechzigjährige Lambke mit umwelt- und artgerechter Schweinehaltung, und er ist nicht der einzige Lüchow -Dannenberger Bauer, den die Atompläne auch zum Umdenken in der Landwirtschaft bewegten. „Mit Gorleben, auch mit 1.004, haben wir die politische Unschuld verloren.“

Während die Mehrheit der einheimischen Bauern im Gegensatz zu Adi Lambke das Treiben auf dem besetzten Bohrgelände lange mit Distanz beäugten, war die Republik für ihre Bewohner „ein ganzheitliches Erlebnis“, wie Maren Gag erinnert: „Ein Abschnitt aus meinem Leben“, wie sie es bei den vielen Demonstrationen und Aktionen hinterher nie wieder erlebte. Für den Kasseler Gerd Panzer, Autor eines Buches über das Hüttendorf, hat die Freie Republik Wendland auch für spätere Kämpfe - etwa an der Startbahn West - eine Vorbildfunktion gehabt. Und für BI-Sprecher Wolfgang Ehmke ist der „Traum von einer Sache“ noch lange nicht ausgeträumt: „Was für die einen Erfahrung der Ohnmacht und Ausgang der Militanz war“, glaubt er, „war für die anderen Ausdruck der politischen Stärke und Kraft.“ Und diese „vierte Kraft“, den Druck von der Straße, darin sind sich wohl alle freie Wenden einig, brauchen sie im Zeichen von Rot-Grün in Hannover mehr denn je zuvor.

Gabi Haas

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