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Wer adoptiert einen Studenten?

■ Sollten die Pläne der Regierung verwirklicht werden müßten viele Studenten buchstäblich am Hungertuch nagen / Proteste im Parlament

Berlin (taz) - „Das ist das zweite Mal schon“, kreischte es aus der CDU-Fraktion der Volkskammer hinauf zur Zuschauertribüne. Dort oben befestigten gerade ein Dutzend StudentInnen Transparente und ließen Handzettel auf die Abgeordneten niederregnen. Die CDUlerInnen sammelten und knüllten, was sie konnten. Doch schon wenige Augenblicke später wurde eifrig gelesen. Und was die Abgeordneten auf dem Flugblatt sahen, dürfte ihnen kaum gefallen haben: Da stürzt nämlich gerade ein Student mit seinem 200-Mark -Regenschirmchen an einem Abgeordneten vorbei in die Tiefe. Während der an seinem 5.900-Mark-Riesenfallschirm einer vergleichsweise sanften Landung entgegenblickt.

Was drinnen in der Volkskammer von Präsident Reinhard Höppner mit gespielter Milde übergangen wurde, das löste draußen helle Empörung hervor. Etwa 8.000 StudentInnen aus Berlin, Jena, Leipzig, Halle, Greifswald und Rostock harrten dort seit mehreren Stunden zwischen Palast der Republik und Dom aus, wartend auf eine definitive Antwort der Volkskammer, wie es denn nun stehe mit ihrem Lebensunterhalt. Ab 1.Juli liegt das Existenzminimum in der DDR bei 495 Mark, so die offiziellen Zahlen aus dem Ministerrat. Das Stipendium wird jedoch deutlich darunter liegen. So viel scheint sicher.

„Wir sind schon frustriert, denn ihr habt ja Euer Salär nun erhöht“, sagte Heinrich Fink, Rektor der Humboldt -Universität, zu Finanzminister Walter Romberg. Der verteidigte sich mit allerlei Schwammigkeiten und bekam als Antwort eine drastischere Situationsbeschreibung. Mit tränenerstickter Stimme fragte eine Studentin dem im Lautsprecherwagen des Studentenrates sitzenden Romberg, wovon sie und ihre zwei Kinder ab 1.Juli leben sollten. Ihrem Mann werde mit Kündigung gedroht, und sie müsse bis 25. Juli Prüfungen schreiben.

Der Finanzminister sagte zu, daß ab 1.Juli die Stipendien auf einem „Sockelbetrag“ von 280 Mark liegen würden und bis 450 Mark reichten. Das Stipendium werde abhängig vom Einkommen der Eltern berechnet. Wenn es nicht reiche, müßten die Studierenden sich halt ein paar Mark dazuverdienen. Doch was sollten die Studenten mit Rombergs Aussage anfangen? Ganz abgesehen davon, daß auch die 280 Mark noch unter dem Existenzminimum liegen, wollen sich offenbar Romberg und Bildungsminister Hans-Joachim Meyer um die Verantwortung drücken. Romberg schob Meyer die Zahl 280 zu. Und der wiederum hatte keine zehn Minuten zuvor in der Volkskammer auf Anfrage von Konrad Weiß erklärt: „Dieser Betrag wurde von uns (dem Bildungsministerium, d.Red.) in den Verhandlungen mit dem Finanzministerium nicht eingebracht.“ Den Studierenden draußen war's zuviel. „Walter, adoptier‘ mich!“ forderte einer den Finanzminister auf. Auf einem Transparenten stand zu lesen: „Studenten werdet Abgeordnete der Volkskammer, dann verdient ihr das Stipendium für fünf Jahre.“

Begonnen hatte die Demonstration morgens um acht. Während sich im Hof der Humboldt-Uni Tausende versammelten, wurde oben vor dem Zimmer des Studentenrates noch fleißig gemalt. Spitzbeinig stiegen DozentInnen über die Transparente, die in den Gängen ausgebreitet lagen. Dann setzte sich der Zug der etwa 8.000 in Bewegung. Die Straße „Unter den Linden“ mußte für mehrere Stunden total gesperrt werden. Das scheint in der DDR momentan überhaupt kein Problem zu sein. Das Präsidium der Volkskammer ließ die Demo gar in den Bereich der Bannmeile ziehen. Die Politiker stellten sich den Studierenden vor der Tür. „Wir kriegen sie alle ran, alle“, feixte Steffen vom Republik-Sprecher-Rat über das Erscheinen von Peter-Michael Diestel, Walter Romberg und einer ganzen Reihe anderer Abgeordneter. Wie allerdings mit den zehn Studierenden verfahren wird, die in der Volkskammer für Lese - und Gesprächsstoff sorgten, das war gestern nachmittag noch offen. Ihre Personalien wurden festgehalten, die Transparente beschlagnahmt. Herunterregnende Flugblätter dafür wurden in Deutschland schon einmal StudentInnen bestraft - die Geschwister Scholl.

Christian Füller

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