: Es ist komplettiert
■ Broilernotstand und Hennenmord
Gabriele Goettle
Der erste Teil dieser vierteiligen Serie über eine Reise der Autorin durch den Norden der DDR erschien am 28. Mai. Die nächste Folge ist für den 18. Juni vorgesehen.
Das Kombinat GH WtB Rostock inseriert in der 'Mecklenburgischen Volkszeitung‘: „BILLIGPREISE, BILLIGPREISE - wir verkaufen ab Lager zu stark reduzierten Preisen: Kosmetikerzeugnisse haushaltschemische Erzeugnisse - Schokoerzeugnisse Zuckerwaren/Spirituosen/Wein/Sekt. Der Verkauf findet in unserem Objekt Fischerbruch statt. Ihr Vorteil - mit Pkw direkt ins Objekt. IHR PARTNER IN DER VERSORGUNG.“ Im 'Neuen Deutschland‘ bieten Kombinate ihre Ferienobjekte zur Miete oder Verpachtung an. Der 'Mecklenburgische Blitz‘, eine der 'Bildzeitung‘ nachempfundene Wochenzeitung, bietet Angelika Schulz an. Halbseitengroß ist die zweiundzwanzigjährige Kindergärtnerin aus Altentreptow auf der Titelseite abgebildet, nackt bis unter den Nabel. Das vermeintliche Pin -up-Girl lächelt ein wenig gequält in die Kamera und drückt die Schultern unnätürlich weit nach hinten, um die unziemlich herabhängenden Brüste annäherungsweise auf Weststandard zu heben. Ein Bild des Jammers. Zudem ist hinter dem angewinkelten rechten Arm das umrahmte Kinderbild von Sohn Nico zu sehen. „In der Liebe gibt es für Angelika keine Tabus. Schade nur, daß dem Friseursalon in Altentreptow die rote Farbe ausgegangen ist, nun mußte sie sich für den Fototermin das Haar graublau färben lassen.“
In der 'Ostsee-Zeitung‘ wird unter der Rubrik Die Volkspolizei teilt mit das Unfallgeschehen dokumentiert: „SCHWER VERLETZT INS KRANKENHAUS - am 20.April gegen 17 Uhr kam es in Damgarten, Ortsausgang Richtung Saal, zu einem schweren Verkehrsunfall zwischen einem Krad und Pkw. In Folge unangemessener Geschwindigkeit kam der Kradfahrer beim Befahren einer Linkskurve von der Fahrbahn nach rechts ab, verlor die Gewalt über sein Fahrzeug und prallte auf einen aus Richtung Saal kommenden Pkw. Der Kradfahrer stand unter der Einwirkung von Alkohol. Der Führerschein wurde sofort entzogen, die Blutentnahme durchgeführt und eine Anzeige wegen Verkehrsgefährdung wegen Trunkenheit aufgenommen.“
In diesen großen Tagen wird auch noch der nebensächlichste Zeitungstext zu einer Parabel. Wie sehr alles durcheinandergeht, zeigt der Bericht über den Verkehrsunfall. Er hätte sich so nur in England ereignen können, bei Linksverkehr. Die Behandlung des Unfallopfers bringt dann das ganze Ausmaß der Zerrissenheit zwischen eingefleischtem Amtstrott und akutem Handlungsbedarf zum Vorschein. Dem vermutlich bewußtlosen Opfer wird als erstes die Fahrerlaubnis aus der Tasche gezogen. Ob die Blutentnahme dann an ihm oder seiner Blutlache vorgenommen wurde, bleibt ungewiß. Das alles resultiert zwangsläufig aus unangemessener Geschwindigkeit und selbstverschuldeter Bewußtseinstrübung, dabei kommen mit Leichtigkeit Kombinate, Kindergärtnerinnen und Kradfahrer unter die Räder.
Hingegen das, was man gern unter den Rädern sähe, beispielsweise Hühner, sträubt sich. Überall auf dem Land hat man ihnen Tür und Tor aufgerissen in der vagen Hoffnung, von unachtsamen Fahrern eine entsprechende Entschädigung kassieren zu können. Die Hühner aber schreiten mit jener unnachahmlich zackigen Schaukelbewegung auf den Fahrbahnen hin und her, picken die proteinhaltigen Reste überfahrener Igel und Katzen auf und treten vorbeugend und elegant an den Fahrbahnrand, sobald sich ein Auto nähert. Da überall handgemalte Schilder zu sehen sind mit der Aufschrift: „Frische Eier zu verkaufen“ und „Bio-Eier von freilaufenden Hühnern“, glaubt der Westler natürlich, daß man hier an seinen Hühnern hängt. Er hält an und kauft ein Dutzend Eier für 1,80, die freilich nicht mehr frisch sind, weil sie sich in den Kellern stauen. Die auf hohen „Eierertrag“ hingezüchteten Tiere lassen sich von der neuen Regel, daß die Nachfrage das Angebot bestimmt, nicht beeinflussen.
Seit der Wende aber ist es eine Plage, Hühner zu haben. Die Annahmestellen, von denen Nebenerwerbsprodukte wie Obst, Gemüse, Blumen, Kaninchen, Geflügel, Eier usf. zuverlässig angekauft wurden, sind geschlossen. Die Erzeuger sitzen verzweifelt auf ihrer eigenen Hände Arbeit. Vormals dazu aufgerufen, „die weitreichende Zielstellung einer mengen-, sortiments- und qualitätsgerechten Produktion zur Versorgung der Bevölkerung mit Frischgemüse und Fleisch mitzusichern durch möglichst hohe Ertragskapazität“, stehen sie nun gerade mit dieser hohen Kapazität schlecht da, sie ist unerwünscht auf dem Markt. Zudem noch mit einer Verteuerung der Futtermittel konfrontiert, bleibt den Erzeugern nur die Wahl zwischen Drosselung oder Erdrosselung.
Ein Metzgerehepaar berichtet von einem Verwandten, dem es unlängst dabei half, 700 Hennen den Kopf abzuschneiden. Mit einer entliehenen Baggerraupe vom Straßenbau-Kombinat wurde eine Grube ausgehoben, in die man alle Kadaver hineinschob, mit Kalk überstreut zuplanierte. Trost habe allein die Hoffnung gespendet, hernach mit dreimal so vielen Hennen den Schaden wieder ausgleichen zu können. Diejenigen, die zu solchen rapiden Mitteln nicht greifen möchten, lassen sich diverse Verkaufsideen einfallen. An den abgelegensten Orten, versteckt hinter Baumgruppen, hat man provisorische Imbißstände aufgebaut, zu denen ein Hinweisschild an der Straße locken soll. Man bietet neben Kaffee und Süßigkeiten aus großen Glasgefäßen Soleier an. Es ist aber abzusehen, daß solcher Innovationsgeist die „Stunde Null“ nicht überleben wird; wer jetzt nichts umkommen lassen kann, wird es nie lernen.
In den Kaufhallen der Städte, den Lebensmittelgeschäften der HO, und selbst in den kleinen Läden mit „Waren des täglichen Bedarfs“ auf dem Lande, stehen „frische“ Westeier aufgestapelt, oft ausschließlich. Am Brotstand liegt Westbrot aus in Plastikbeuteln, 10 Scheiben zu fast 6 Mark. Der 1,5 kg Laib aus der DDR-Produktion kostet 95 Pfg. Ariel und Dash haben das volkseigene Spee in die hinterste Ecke der Regale verdrängt, falls es überhaupt noch zu bekommen ist. Die WC-Ente und das antibakterielle Kampfgas Domestos stehen bereit, da bleibt für Pulax, den rauhen Scheuersand, der auf dem feuchten Lappen grau wird und lediglich nach Chlor riecht, freilich keine Chance. Und was will die DDR -Sahne im Glasfläschchen mit dem goldenen Deckel gegen das praktische Plastikwegwerfkännchen voller Kaffeesahne vorbringen, außer vielleicht, daß die Schulkinder sich so daran gewöhnt haben, Stanioldeckel zu sammeln für die Wiederverwertung?
Daß der Bürger im Laden statt des eigenen Bieres zunehmend nur noch Westmarken zu ungewohnten Preisen vorfindet, versteht sich fast schon von selbst. Eine wirkliche Tragödie aber ist der Einmarsch westlicher Säfte. Valensina, Cola, Fanta, Sprite usw. haben die klebrigen Flaschen mit den diversen Süßmosten aus Stachelbeeren, Äpfeln, Rhabarber, Erdbeeren, roten und schwarzen Johannisbeeren aus dem Feld geschlagen. Sie wurden von regionalen Mostereien hergestellt und waren so intensiv, daß man sie ohne Geschmackseinbuße 1:3 verdünnen konnte. Nun sind sie aus fast allen Läden verschwunden. In Fürstenberg sah ich drei russische Knaben von ca. 12 Jahren, Kinder der Offiziere, die in Ravensbrück stationiert sind. Sie diskutierten verzweifelt, hin- und hergerissen bei der Wahl zwischen Cola und Fanta.
An den Fleischständen und in den Metzgereien herrscht weitgehende Leere. Hatte die Kundschaft schon vor Monaten gehofft, daß es nun endlich auch geben würde, was auf den genormten Angebots- und Preistafeln steht, nämlich Zunge, Herz, Hirn, Filets, Steaks, Schinken usf., so war sie mehr als im Irrtum. Heute gibt es nicht einmal mehr das, was früher mühelos erhältlich war. Bereits vormittags um 10 Uhr sind bespielsweise Schweinekoteletts vergriffen. Statt dessen werden ein paar Innereien, sehr fettes Suppenfleisch, Schweinebauch und Broiler angeboten.
In Stralsund z.B. bot man neben Dauerwürsten und Schmalz Räucher-Broiler an. Mit ihnen hat es offenbar eine eigene Bewandtnis. Man hat sie, wegen massenhaftem Anfall und mangelnder Tiefkühlkapazität in den Fischräuchereien mitgeräuchert. Womöglich ist in der Not ein neues Produkt entstanden, das Fleisch schmeckt wie das der Schillerlocke, was ja ein Zugewinn ist, da es keine Schillerlocken gibt.
In den Fischgeschäften ist die Versorgung extrem unterschiedlich. In Rostock bekommt man wenig, in Fürstenberg lediglich geräucherte Bauchlappen von Makrelen, deren Filets in den Konservenfabriken verarbeitet wurden. Auf der Halbinsel Zingst öffnet das Fischgeschäft oft nur noch zweimal monatlich, früher einmal in der Woche. Im Schaufenster stehen auf der DDR-üblichen Einheitsdekoration verstaubte Konserven auf vergilbten Papierservietten. Während der Lastwagen abgeladen wird, murren die Frauen in der Schlange über die geringe Liefermenge, nicht ahnend, daß anderswo diese Auswahl Freude hervorrufen würde. „Vielleicht liegt es ja an den Leitern, daß wir so schlecht versorgt werden“, mutmaßt eine Frau, „aber wahrscheinlich verhökern sie bis zum 2. Juli alles in den Westen“. Innen werden geräucherte Makrelen, kleine Bücklinge - die im Gegensatz zum BRD-Brauch noch Rogen und Milch im Bauch haben - grüne Heringe, Sprotten und zwei Kisten zusammengefrorener Rotbarsche ausgelegt.
In einem Fischgeschäft auf Rügen sieht es wesentlich schlechter aus. Eine Frau erklärt ironisch: „Wenn man hier frischen Fisch möchte, dann muß man Beziehungen haben zu den Fischern. Wir hier in der Schlange haben diese guten Beziehungen nicht, so sieht es aus. Dabei sind sie seit Tagen draußen, denn jetzt ist ja die Zeit, der Fang soll gut sein, aber wir sehen nichts davon.“ Am nächsten Tag sehen wir eine lange Kette von Booten draußen auf dem Meer, begleitet von großen weißen Verarbeitungsschiffen. Ein alter Mann berichtet: „Ja, die sind schon die ganze Zeit draußen, Tag und Nacht. Hier, dahinten, Richtung Kap Arkona sind die Laichplätze vom Hering, da kommt der jedes Jahr. Aber zum Ablaichen kommt der gar nicht, die holen ihn schon vorher raus, arbeiten mit Echolot...“ Was mit den Fängen geschieht, scheint ein Staatsgeheimnis zu sein, es geht das Gerücht um, daß ein großer Teil zu Fischmehl und Dünger verarbeitet wird, die sich lagern lassen bis nach der Währungsreform, während die Verarbeitung und Abgabe an den Lebensmittelhandel wegen der Niedrigpreise keinen Gewinn brächte. Überflüssig zu erwähnen, daß unzählige Fischkonserven aus dem Westen in den Läden angeboten werden, wie alle Westwaren zum Kurs von 1:3 erhältlich.
Spar, Rewe, Kaisers Kaffee, Tschibo usw. überschwemmen die HO-Läden mit Westprodukten. Verkäuferinnen und Leiterinnen werden zu Schulungskursen z.B. in die bundesrepublikanischen Spar-Filialen geholt und kehren mit einem Trauma zurück. Schon der Anblick eines Glases mit Schweinekopf-Wellfleisch von der VEB Fleischwirtschaft Wismar ist beschämend und demütigend, ganz zu schweigen von Lungenhaschee und Nieren im Glas, Spaghetti im Glas... Unzumutbar erscheinen plötzlich die einheimischen Speisen, auch wenn sie von guter Qualität sind und wohlschmeckend. Diese Waren müssen verschwinden, werden nicht mehr geordert, auch wenn dadurch die Probleme nicht schwinden, denn alleine für eine Käsetheke nach westlichem Vorbild würde man die Hälfte der durchschnittlichen Ladengröße benötigen und wohin dann mit dem Kosmetik- und Waschmittelsortiment, dem Gewürzregal? Die Lagerkapazität ist nach dem ehemaligen Sortiment bemessen. Aber Spar wird mit den entsprechenden Investitionen nicht lange auf sich warten lassen, schließlich verfügt die HO mit fast 75.000 Läden über einen Marktanteil von ca. 60 Prozent. Daß nach der Umstrukturierung der halben Million Beschäftigter ein guter Teil eingespart werden kann, ist sicherlich bereits durchkalkuliert.
Spar hat sich auch um die HO-Gaststätten gekümmert. In Rieth, einem kleinen Ort nahe der polnischen Grenze am Stettiner Haff, erzählt eine Pächterin: „Man kennt sich nicht mehr aus. Jetzt, seit Spar - diese Westkette - sich in die HO eingeklinkt hat, ist alles anders, auch die Preise. Ich bestelle ja nach wie vor auf den alten Formularen, aber anscheinend ist das nur noch Papier, und oben weiß niemand mehr, wer wofür zuständig ist und bleibt. Ich habe das Gefühl, wir werden vollkommen plattgewalzt vom Westen. Unser eigenes Bier wird es bald nicht mehr geben, und wenn, zu welchem Preis? Dabei ist es nicht mal schlecht, wirklich nicht! Die Westbrauereien rennen uns hier die Türen ein, die Vertreter für Spielautomaten, Versicherungen... alle, man hat ja keine Ahnung, was nun richtig ist für die Zukunft und was nicht. Und ich bin alleine, mache alles selber... vorige Woche z.B. hatte ich 120 Essen, zwei Busse aus Westdeutschland, waren angemeldet, alles, aber wenn mir die Frauen aus dem Ort nicht geholfen hätten... ich weiß nicht... sowas ist ja nicht zu schaffen! Früher habe ich das ja mit meinem Mann zusammen gemacht, der wurde dann aber mit der Zeit sein bester Gast. Vor fünf Jahren habe ich ihn vor die Tür gesetzt, es war nicht mehr auszuhalten. Jetzt ist er Schäfer hier in unserer LPG, liegt jeden Tag besoffen zwischen den Schafen auf der Wiese. Sie werden ihn wohl rauswerfen, das Fleisch kriegen sie jetzt schon nicht mehr los.“
In den LPG-Betrieben herrscht das Chaos. Unmittelbar, nachdem das staatliche Handelsmonopol außer Kraft gesetzt und die Zollkontrolle nur noch lasch war, erstürmten westliche Agrarprodukte den unvorbereiteten Markt. Obst, Gemüse, Fleisch, Eier, Milchprodukte, obgleich sehr teuer, werden teils in dem Wahn, sie seien besser als die einheimischen Produkte, teils aus Ermangelung derselben, heftig konsumiert. An einen Export der eigenen Produkte in den Westen ist nicht zu denken, die strengen EG -Schutzbestimmungen kontingentieren alle Erzeugnisse gnadenlos. Dementsprechend bleiben viele landwirtschaftliche Betriebe auf ihren Produkten sitzen, die Handelsorganisationen reduzieren oder stornieren ihre Bestellungen, um die Lager freizuhalten für Westware. Wie überall in diesem undurchsichtigen Gewirr aus Genötigten und Gewitzten ist damit natürlich nur die halbe Wahrheit gesagt. Denn was als „Rinder- und Schweinestau“ in den Großmästereien ausgegeben wird, ist oft genug Ergebnis eines durchkalkulierten Risikos. Tiere, die eigentlich schon „Schlachtreife“ erreicht haben, werden bis Juni durchgefüttert, von der LPG-Pflanzenproduktion mit Grünfutter versorgt, oder sie stehen ohnehin auf den Weiden. Kleinere Produktionsgenossenschaften allerdings, mit schlechter Ausrüstung und wenig Zukunftsaussichten, stehen jetzt schon vor der Pleite.
Kaum ein Bauer hat vor, privat weiterzuwirtschaften. Die eigene Scholle ist lediglich gut für den Grundstücksverkauf, der noch nicht gestattet wird. Daß die LPG sich als Eigentum und Betrieb der Genossenschaftsbauern wird halten können, darauf hoffen angesichts des EG-Marktes nur wenige der Betroffenen. Sie haben bereits Betriebe im Westen besichtigt und zuhause einschlägige Erfahrungen gemacht. Insgeheim rechnen die Bauern selbst mit mehr als 50 Prozent Arbeitslosen in der Landwirtschaft. Fast keiner wagt es offen auszusprechen, und so verfällt man auch hier dem heilsamen Konsumrausch, der dabei hilft, sich in Hoffnungen zu wiegen; man läßt sich von Vertretern westlicher Landwirtschaftsmaschinen-Hersteller, Düngemittelfirmen, Pharmakonzernen das moderne Know-how andrehen. Derweil fährt die dörfliche Jugend mancherorts auf ihrem Moped durchs hüfthohe Weizenfeld, von dem schon jetzt feststeht, daß eine Ernte nicht vonnöten sein wird. Es wurde im Frühjahr noch nach Plan gesät. Für die Mopedfahrer ist es ein Heidenspaß, um so mehr, als abzusehen ist, daß sie einem ähnlichen Schicksal anheimfallen werden: überflüssig zu sein.
Das alles spielt sich ab in einer noch relativ unversauten Landschaft ohne gröbere Flurbereinigung. Zwischen den Feldern stehen Büsche und Baumgruppen, wie man sie von den alten Bildern der Niederländer kennt, da lagern Kühe und Pferde. Ganz zu schweigen von den zahllosen Alleen und Chausseen. Da gibt es solche mit Eichen, Kastanien, Linden, Erlen, Pappeln, Kiefern, und sogar großen alten Kirschbäumen. Viele der dicken Stämme tragen Narben von Auffahrunfällen. Solche Verkehrshindernisse müssen natürlich entfernt werden; schon allein die Vorstellung, daß dem Westler im Herbst kilometerweit Kastanien auf den Autolack poltern, zeigt, daß wir es hier nicht mit dem rechten Weg zur Marktwirtschaft zu tun haben.
Nicht marktgerecht ist auch, daß es hier eine beachtliche Artenvielfalt in Flora und Fauna gibt, nicht aber in der Waren- und Verpackungswelt. Was hat man von Störchen, Blindschleichen, Lurchen, Raupen, Sumpfdotterblumen und Himmelsschlüsseln, wenn nicht einmal eine Colabüchse zur Hand ist, um sie mitten hinein zu werfen?
Nun wird das System der Einheitspfandflaschen, des grauen Packpapiers, der wiederverwendbaren Einkaufstaschen abgeschafft. Der volkseigene Betrieb SERO, bisher zuständig für ein vorbildliches Recycling-System, wird GmbH. Bereits seit Anfang des Jahres haftet man nur noch beschränkt. Allmählich verschwanden die typischen Sammelnetze von den Straßen und aus den Wohnsiedlungen. Plastikabfälle und Altpapier wurden in den Hausmüll geworfen. Der Ankaufspreis für Glas wurde auf 10 Pfg. heruntergesetzt (früher das Drei bis Fünffache), dann wurde die Annahme vollkommen geschlossen. Kalkulationen ergaben, daß z.B. das Sterilisieren von Saft-, Milch- und Bierflaschen inkl. Transport mehr kostet, als vollkommen neue und sterile Flaschen aus dem Westen zu kaufen. Nicht einmal mehr Glasbruch aus den gebrauchten Flaschen rentiert sich. Auch die Wiederverarbeitung des Altpapiers würde nur Kosten verursachen, zumal sich eine Flut an Westzeitungen und Zeitschriften über das Land ergießt. Die im Tiefdruckverfahren gewonnenen Farben würden zudem die Papiermasse derart verfärben, daß eine Bleichung auf das halbwegs gewohnte Grau die Unkosten nur noch erhöhen würden. Ohne Subventionierung stagniert so manches Unternehmen. Dem DDR-Bürger ist ohnehin weitgehend verborgen geblieben, was alles im West aus Steuermitteln subventioniert wird, damit der „freie Markt“ sich überhaupt auf den Beinen halten kann. Es wäre auch schwer zu verstehen, weshalb die lohnabhängigen Massen das Privateigentum vor der Pleite retten müssen.
So fügt sich alles zusammen, den Leuten stehen vom „Fahrtwind der Geschichte“ die Haare zu Berge. In diesem Sog des schicksalhaft hereingebrochenen Kauf- und Verkaufsrausches wurde die nationale Hochstimmung ganz klein. Vom deutsch-deutschen Traum bleibt einzig das zähneknirschende Ressentiment gegen Fremde aus weniger entwickelten Ländern und Fremde im eigenen Volk. Es wird so ähnlich werden wie bei der westdeutschen Währungsreform, alles ist da: Leere Läden, leere Versprechungen und die Genasführten.
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