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„Neue Junker“ in der DDR-Landwirtschaft?

Etwa der Hälfte der 800.000 Beschäftigten in der Landwirtschaft der DDR droht die Entlassung / Viele LPGs haben Millionenschulden, die weder durch Vermögen noch durch Boden als Kreditsicherheit gedeckt sind / Im Westen stoßen Produktivgenossenschaften bei Politikern und Genossenschaftsverbänden auf verschlossene Türen  ■  Von Eckehard Niemann

„Wenn das Getreide gut stand, dann haben wir uns früher gefreut. Heute fragen wir pessimistisch, was wohl mit der Ernte wird?!“ Die Genossenschaftsbäuerin Lydia Schulz schaut skeptisch über die riesigen Weizenfelder am Rande der Magdeburger Börde, über eine ausgeräumte Landschaft, fast ohne Baum und Strauch: „Dafür können wir auch nichts, das wurde uns aufgezwungen.“

Die SED-Kommandowirtschaft hat den DDR-Bauern unzählige Probleme hinterlassen. „Industriemäßige Methoden“ - nach diesem Leitbild war die Landwirtschaft zurechtgemodelt worden: Mit riesigen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG), jeweils vollständig spezialisiert auf Ackerbau auf mehreren tausend Hektar (LPG -Pflanze) oder mehrere tausend Stück Vieh in zentralisierten Riesenställen (LPG-Tier). Die anfallenden Güllemengen müssen über zwanzig Kilometer transportiert werden.

Der Rückbau diese Industrie-Landwirtschaft stößt auf ungeahnte Schwierigkeiten. Von einer „Mischung aus Anarchie, Ratlosigkeit, Lähmung und Angst“ berichtet ein LPG-Leiter: „Wir haben den Konkurs vor Augen!“ Viele LPGs haben Millionenschulden, die oft durch die staatliche Planbürokratie erzwungen wurden. Nach der bevorstehenden Neubilanzierung werden sie in den meisten Fällen nicht mehr durch LPG-Vermögen gedeckt sein.

Boden als Kreditsicherheit können die LPGs den Banken nicht anbieten, denn der gehört auf dem Papier immer noch den ehemals zwangskollektivierten Bauern oder deren Nachkommen außerhalb der Landwirtschaft. Auch auf das „Bodenreformland“, das vor 45 Jahren den Junkern und größeren Höfen enteignet und dann in Staatseigentum verwandelt wurde, können die LPGs nicht rechnen. Zwar erließ noch die Regierung Modrows ein Gesetz, das den LPGs ein billiges Vorkaufsrecht einräumte, aber mangels einer Durchführungsverordnung wurde daraus nichts. Nun sind alle Flächen frei handelbar, auf die LPGs kommen zusätzliche Kosten durch Pachtzahlungen zu, von Kaufpreisen ganz zu schweigen.

LPGs mit Schulden finden auch keine Partner, wenn es um die dringend notwendige „Wiedervereinigung“ von LPG-Pflanze und LPG-Tier geht. „Welche Genossenschaft wird sich mit einer anderen zu einem abgerundeten Betrieb zusammentun, wenn Verbindlichkeiten ins Haus stehen?“, fragt die DDR -'Bauernzeitung‘. Ein Entschuldungsprogramm mit 400 Millionen Mark bleibt auch nach der Umstellung von 2:1 angesicht von knapp fünfzehn Milliarden LPG-Schulden ein Tropfen auf den heißen Stein.

Zwar gibt es auch Betriebe mit Millionenguthaben, aber auch für die bringt die bevorstehende Senkung der Erzeugerpreise um 60 Prozent auf das EG-Niveau existenzielle Sorgen. Daß ab Juli auch viele Betriebsmittel billiger werden, ist nur ein schwacher Trost. Der DDR-Handel verkauft schon jetzt lieber Westwaren mit hohen Handelsspannen als Erzeugnisse der DDR -Landwirtschaft. Viele LPGs bleiben buchstäblich auf ihren Schweinen oder auf ihrer Milch sitzen. Ob die Beschränkungen der Einfuhren aus dem Westen ab Juli eine Besserung des Absatzes bringen wird, steht dahin. Und in der Übergangszeit von zwei Jahren soll auch diese „grüne Grenze“ schrittweise abgebaut werden.

Bezogen auf die landwirtschaftliche Nutzfläche arbeiten in der DDR etwa doppelt so viele Menschen wie in der Bundesrepublik Deutschland: Und zwar mit einer 43-Stunden -Woche, während die westdeutschen Bauern mit einer 65 -Stunden-Woche ihre Existenz zu sichern suchen. Auch aus anderen Gründen brauchten die LPGs bisher viele Arbeitskräfte: Ersatzteile für die völlig verschlissenen Großmaschinen fehlten und mußten in der eigenen Schlosserwerkstatt nachgebaut werden, die LPG-Baubrigaden erstellten nicht nur Ställe, sondern auch Straßen, Schulen und Gaststätten im Dorf. Zur LPG gehörten auch Kinderkrippen, Großküchen, Tankstellen oder Bäckereien.

Aber auch ein riesiger Wasserkopf, der die Organisation der schwerfälligen Riesen-LPGs und den umfangreichen Schriftwechsel mit der Planbürokratie abwickelte: „Wir haben einen Vorsitzenden, einen Ökonomen, eine Arbeitsökonomen, eine Hauptbuchhalterin mit sechs Sachbearbeitern, einen Produktionsleiter'einen technischen Leiter, einen Kaderleiter, einen Lagerverantwortlichen, fünf Abteilungsleiter, drei Werkstattleiter, zehn Brigadiere, zwei Pflanzenschützer, einen Düngerbeaufragten und einen Verantwortlichen für wissenschaftlich-technischen Fortschritt...“, zählt der Genossenschaftsbauer Zander auf.

Entlassungen stehen bevor, und die Aussicht auf alternative Arbeitsplätze auf dem Land ist trübe. Zwar versuchen viele LPG-Leiter, ihre Leute in neugegründeten GmbHs im Bau- oder Dienstleistungsbereich zu beschäftigen - trotzdem droht der Hälfte aller 800.000 Beschäftigten in der DDR-Landwirtschaft die Entlassung. Bisher entscheidet darüber noch die LPG -Mitgliederversammlung: „Wer schmeißt wen raus?“ - Das ist demnächst einer der Tagesordnungspunkte.

Auch die zukünftige Organisationsform der LPGs hängt noch weitgehend in der Luft. Wollen sie zu einer Genossenschaft nach bundesdeutschem Recht werden, dann müssen sie zu einer „eingetragenen Genossenschaft“ des BRD-Genossenschaftsrecht umgewandelt werden. Sie werden damit rechtlich zu Kapitalgesellschaften und sind im Vergleich zu landwirtschaftlichen Einzelbetrieben wesentlich schlechter gestellt. Die bundesdeutsche Agrarförderpolitik zeichnet sich durch eine extreme Benachteilung von landwirtschaftlichen Produktivgenossenschaften aus. Sämtliche agrarpolitischen Förderprogramme, von der Eigenkapitalhilfe bis zum Sozialversicherungssystem gelten für die „eingetragenen Genossenschaften“ nicht. Auch steuerrechtlich sind sie im Vergleich zum Einzelbetrieb schlechter gestellt. Dazu kommt, daß sich die westdeutschen Genossenschaftsverbände gegen die Anerkennung von Produktivgenossenschaften wehren, deren Mitglieder sowohl Arbeiter als auch Eigner sind.

Ein zusätzliches Problem ist die Einstellung der Genossenschaftsmitglieder: Initiative, genossenschaftliche Demokratie und Identifikation blieben bei vielen während der früheren „Kommandowirtschaft“ gering, viele sehen sich weniger als Bauern denn als Landarbeiter. Die extreme Spezialisierung auf Berufe wie „Mechanisator“ oder „Zootechniker“ in der LPG erschwert das Denken in Zusammenhängen oder die Rückkehr zu einer selbständigen Bewirtschaftung eines Hofes. „Es gibt nur noch wenige Bauern mit Herz und Verstand“, beklagten viele in der DDR -Landwirtschaft. Bäuerliches Denken ist aber unerläßlich, wenn es um die Erhaltung von Boden, Umwelt, Dorf und Landschaft geht.

Die Agrarpolitik der DDR versucht dem Rechnung zu tragen, indem sie die Aufgliederung der Mammut-LPGs zurück auf die Dorfebene propagiert. Die meisten LPG-Mitglieder betreiben nach Feierabend noch eine kleine „Eigenwirtschaft“ auf ihren privaten Parzellen oder in kleinen Ställen. Hier ist noch ein Rest von bäuerlichem Bewußtsein und Arbeitskultur, der Ausgangspunkt sein könnte für die Schaffung neuer Bauernhöfe, für die dezentralisierte Bewirtschaftung eines LPG-Stalles durch mehrere Genossenschaftsmitglieder. Etwa 15.000 wollen jetzt wieder selbständig wirtschaften.

Darauf zielen aber weder die DDR- noch die BRD -Agrarpolitiker ab: Großbetriebe im agrarindustriellen Maßstab der Niederlande oder Großbritanniens sind das Ziel. Kiechles Staatssekretär Gallus will die DDR zum „mit Abstand schlagkräftigsten Gebiet auf dem Landwirtschaftssektor in Europa“ ausbauen. Und auch der Bauernverbandssekretär Born freut sich: „Langfristig kann eine effektive Landwirtschaft entstehen, die den Holländern zeigt, was eine Harke ist.“

Die westdeutschen Agrarpolitiker haben dabei aber keineswegs genossenschaftliche Großbetriebe im Sinn. Ministerialdirektor Dr. Scholz befindet ebenso wie Bauernverbandspräsident Heeremann, daß landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften in einer Marktwirtschaft nicht erfolgreich sein können. „Sogenannte Anpassungshilfen“ seien, so Scholz, nur „hinausgeworfenes Geld“.

Auch Landwirtschaftsminister Kiechle erwartet den „sukzessiven Übergang zur privaten Produktion“. Was darunter zu verstehen ist, hat sein Mitarbeiter Dr. Scholz schon klar beschrieben: „große Pachtbetriebe auf den Flächen der ehemaligen LPG oder Teilen davon“, „landwirtschaftliche Bewirtschaftungsgesellschaften in der Rechtsform GmbH oder der GmbH und Co.KG. oder Aktiengesellschaften“, „großbäuerliche Familienbetriebe“ nach britischem Beispiel, wo es schon „Family Farms mit über tausend Hektar“ gebe. Die agrarindustrielle Mentalität vieler „LPG-Fürsten“ bietet hier ideale Anknüpfungspunkte, aber auch westliche Investoren stehen in den Startlöchern.

Daß dies zur „Fallgrube“ für bundesdeutsche Bauern werden könnte, sieht Staatssekretär Gallus klar, der Gießener Agarprofessor Harsche sieht gar die „Familienbetriebsideologie“ bereits „flächendeckend ad absurdum“ geführt. Agrarindustrie in privater statt in genossenschaftlicher Form - dadurch sehen sich LPG -Mitglieder und westdeutsche Bauern gleichermaßen bedroht. Die bundesdeutsche „Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft“ fordert ein Förderungsprogramm für bäuerliche Betriebe hüben und drüben und den Erhalt der Arbeitsplätze der Genossenschaftsbauern. Sonst stehe das bevor, wofür man in der DDR schon einen neuen Begriff geprägt hat: „neue Junker“.

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