: ÖTV in der DDR gegründet
Mit viel Hilfe aus dem Westen wurde am Samstag eine neue Gewerkschaft in Magdeburg gegründet / Schon in ein paar Monaten soll die DDR-ÖTV wieder verschwinden: Dann kommt die Gewerkschafts-Vereinigung ■ Aus Magdeburg Martin Kempe
Die Sitzungspause im Klubhaus Georgi Dimitroff im Magdeburger Stadtteil Buckau zog sich hin. Kaum hatte der Gründungskongreß der „ÖTV in der DDR“ sich am Sonnabend sein Präsidium begeben und alle Formalitäten der Konstituierung bewältigt, geriet die üblicherweise so routinierte gewerkschaftliche Kongreßregie ins Stocken: Die Änderungsanträge für den vorliegenden Satzungsentwurf lagen noch nicht vor, weil der hauseigene Fotokopierer streikte und in aller Eile ein Copy-shop in der Magdeburger City aufgesucht werden mußte. Und so dehnte sich die Pause bis fünf Uhr nachmittags. Aber dann ging der Gründungsakt der „ÖTV in der DDR“ im Eiltempo über die Bühne. Kaum zwei Stunden später war die Satzung nahezu einstimmig beschlossen, und das schmucklose Klubhaus mit seinem abgeschabten Interieur erlebte seinen „historischen Moment“: die erste DDR-weite Gründung einer freien Gewerkschaft nach der Wende.
„Ein bißchen enttäuscht bin ich schon“, kommentierte Peter Jüttner aus Halle nachher den Gründungsakt. Denn seine Delegation hatte eigene Vorstellungen über die innere Struktur und zukünftige Rolle der DDR-ÖTV mit nach Magdeburg gebracht. Der vorliegende Satzungsentwurf, maßgeblich formuliert von der Zentrale der West-ÖTV, wies einige demokratische Defizite auf: Die Hallenser bemängelten das Fehlen eines Beirats, also eines demokratisch gewählten Vertretungsgremiums zwischen den ordentlichen Gewerkschaftskongressen.
Die DDR-ÖTV wird nicht alt werden. Spätestens am 1.November soll sie wieder aufgelöst sein. Bis dann will die West-ÖTV per Satzungsänderung ihren Geltungsbereich auf das Gebiet der DDR ausgedehnt haben. Die Mitglieder der DDR-ÖTV werden sich dann der großen Schwester aus dem Westen anschließen müssen. Genauso wird mit jenen sechs DDR -Einzelgewerkschaften (Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen, IG Transport, Gewerkschaft Wissenschaft, Gewerkschaft der Zivilbeschäftigten der Nationalen Volksarmee und Gewerkschaft der Armeeangehörigen) verfahren, die am 30.Mai in einem Kooperationsabkommen mit der West-ÖTV ihren Willen zur Gründung einer gesamtdeutschen ÖTV bekundet haben.
Die Erwartungen an die neugegründete ÖTV der DDR sind hoch. In vielen Betrieben in der DDR geht die nackte Angst um. Natürlich will die ÖTV die Forderungen „mit aller Kraft“ unterstützen. Aber woher kommt die gewerkschaftliche Kraft, und wie groß ist sie? Die Antwort auf diese Fragen müssen die neuen ÖTV-Mitglieder in der DDR selbst finden.
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